Adrienne nickte und grinste kalt. Sie fühlte sich stets besser, wenn sie aus einer Machtposition heraus mit anderen verhandeln konnte. Sie würde sich mit Evangeline Shreck treffen.
Und wenn nur, um von einer Seite Finlays zu hören, die sie nie gekannt hatte.
Evangeline Shreck stand vor dem einzelnen großen Fenster ihres Appartements im Shreck-Turm und blickte auf die Welt dahinter, eine Gefangene in ihrem eigenen Heim. Selbstverständlich war die Tür nicht verschlossen. Nichts so Offensichtliches wie ein gewöhnliches Schloß, o nein. Aber wenn Evangeline versuchen würde, den Turm zu verlassen, ohne zuvor die Erlaubnis ihres Vaters eingeholt zu haben, würden freundliche Wachen ruhig, aber bestimmt darauf bestehen, daß sie in ihre Wohnung zurückkehrte, während sie weitere Befehle ihres Vaters einholten. Und einige von ihnen würden sie auf dem Weg dorthin begleiten, nur um sicherzustellen, daß sie unterwegs nicht verlorenging. Der Shreck wollte, daß Evangeline so selten den Turm verließ wie nur irgend möglich. Offiziell gab er sich besorgt, daß die Eiserne Hexe versuchen könnte, Evangeline zu entführen und eine Dienerin aus ihr zu machen, eine jener mental konditionierten Sklavinnen ohne eigenen Willen.
Löwenstein hatte das bereits mit einer Nichte des alten Shreck getan. Niemand hatte etwas deswegen unternommen. Niemand hatte die Stimme dagegen erhoben. Niemand hatte es gewagt, nicht einmal der alte Shreck.
Aber noch mehr sorgte der Shreck sich, daß man Evangeline als Klon identifizieren könnte, und das in diesen Zeiten, in denen Klone nichts zu lachen hatten. Falls jemals herauskam, daß der Shreck seine Tochter nach ihrem plötzlichen Tod geklont und den Klon anschließend als seine echte Tochter ausgegeben hatte, gäbe es bei Hofe und in der Gesellschaft einen Aufruhr.
Es war der schlimmste Alptraum eines jeden Aristokraten, selbst durch einen Klon ersetzt zu werden. Gregor würde bestraft und geächtet, und der Klon Evangeline würde zerstört werden – hauptsächlich wegen des Verbrechens, alle so lange an der Nase herumgeführt zu haben.
Doch auch das war noch nicht die ganze Wahrheit. Der Shreck hielt Evangeline als Gefangene, weil er die Macht dazu besaß. Er wollte Evangeline lieben, sie umsorgen und vollkommen besitzen. Wie es bei seiner richtigen Tochter gewesen war. Der Shreck hatte seine Tochter nicht als Vater geliebt, sondern als Liebhaber. Vielleicht hatte er sie aus diesem Grund getötet. Evangeline kannte die wahre Geschichte nicht. Der Shreck bestand darauf, daß es ein Unfall gewesen war, doch hin und wieder ließ er versteckte Andeutungen fallen, daß niemand ihm jemals trotzen und lange genug überleben würde, um sich damit zu brüsten. Evangeline hielt den Kopf demütig gesenkt und tat, was der Shreck von ihr verlangte. Sie haßte ihren Vater und hätte ihn auf der Stelle getötet, wenn sich eine Möglichkeit geboten hätte, doch im Augenblick blieb ihr keine andere Wahl, als seinem Willen zu gehorchen. Evangeline spielte die liebevolle, ergebene Tochter, und als Gegenleistung schützte der Shreck die Frau ihres wirklichen Geliebten Finlay und seine Kinder, wie Evangeline es Finlay versprochen hatte. Finlay wußte nichts von dem Preis, den Evangeline dafür zahlte.
Er durfte es niemals erfahren, oder er würde aus dem Untergrund stürmen und schreckliche Rache nehmen, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Evangeline sorgte sich um ihn.
Also verriet sie nichts. Evangeline liebte Finlay so sehr, daß sie eine Rolle spielte, die sie früher oder später zerstören würde, und sie dachte nicht ein einziges Mal darüber nach, wie unfair das alles war.
Evangeline stand kurz davor zu zerbrechen, obwohl ihr selbst diese Tatsache noch nicht bewußt war. Sie besaß zu viele Verpflichtungen gegenüber zu vielen Leuten. Gegenüber ihrem Vater, wegen seines Schutzes. Gegenüber Finlay und seiner Familie, wegen seiner Liebe. Gegenüber der Untergrundbewegung von Espern und Klonen, wegen der gerechten Sache.
Und, und, und… Sie alle wollten etwas von Evangeline, und manchmal alle zur gleichen Zeit. Es fiel ihr immer schwerer, die verschiedenen Parteien getrennt zu halten. Unterschiedliche Lügen für unterschiedlich Leute. Bis die Wahrheit sich ganz in Rauch auflöste. Evangeline liebte Finlay noch immer von ganzem Herzen, obwohl sie ihn immer seltener zu Gesicht bekam.
Der Untergrund beschäftigte ihn mit Aufträgen, über die Finlay niemals ein Wort verlor. Evangeline war die Kontaktperson zum Hof und zur Gesellschaft gewesen, aber da sie inzwischen so selten nach draußen kam, wurde ihr Nutzen für die Bewegung immer geringer. Sie durfte keine Erklärung abgeben. Ihre Verbindungsleute könnten es Finlay erzählen. Und sie durfte natürlich auch ihrem Vater nichts verraten, weder von Finlay noch von der Untergrundbewegung. Der alte Shreck hätte sie auf der Stelle getötet. Für das, was sie getan hatte, und weil sie ihm getrotzt hatte. Und weil Evangeline gewagt hatte, jemand anderen zu lieben.
Der Shreck konnte schließlich jederzeit eine neue Evangeline klonen. Er hatte es bewiesen.
Und so marschierte Evangeline in ihrem Appartement auf und ab, während ihre Gedanken sich überschlugen und gegen die schwankenden Wände ihrer zahlreichen Rollen prallten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Sie näherte sich still und leise dem Wahnsinn. Evangeline sprach kaum jemals mit anderen Menschen, aus Angst, der falschen Person das Falsche zu verraten. Und sie fürchtete ständig, daß der nächste Besucher an ihrer Tür von der Sicherheitsbehörde sein könnte, mit einem Haftbefehl in der Hand, um sie mitzunehmen und in die Verhörzellen zu werfen. Sie würden Evangeline zum Reden bringen. Alles hing von ihrem Schweigen ab, Finlay, der Vater, die Untergrundbewegung, und Evangeline fühlte sich mit jedem weiteren Tag weniger zuverlässig. Bis jetzt hatte sie durch reine Willenskraft ihren Zusammenbruch verhindert. Teilweise wegen ihrer Liebe zu Finlay und teilweise, weil so viele leiden würden, wenn sie Schwäche zeigte. Wenn sie sich gehenließ.
Und so war die Last auf Evangelines Schultern immer schwerer geworden. Sie konnte nicht – durfte nicht – verschnaufen und sie absetzen. Arme Evangeline.
Evangeline zuckte unwillkürlich zusammen, als ihr Schirm leise summte und einen eingehenden Anruf meldete. Sie wußte, wer es war, wer es sein mußte – trotzdem nahm sie den Anruf entgegen. Sie nahm vor ihrer Ankleidekommode Platz. Der Spiegel wurde hell und zeigte das feiste, grinsende Gesicht ihres Vaters. Eine kalte Hand umklammerte Evangelines Herz.
Sie rang nach Luft und biß die Zähne zusammen, um das Beben ihrer Lippen zu verbergen.
»Ich rufe an, um dir zu sagen, daß ich auf dem Weg bin, meine Liebe«, sagte der Shreck. »Bis zu meinem Eintreffen solltest du dir ein paar liebende Gedanken machen, mein Schatz. Und zieh dein rosafarbenes Nachthemd an. Du weißt schon, welches ich meine. Ich bin bald da, und dann können wir uns ein wenig amüsieren, nur du und ich allein. Freust du dich?«
Das feiste Grinsen verschwand, und der Schirm wurde wieder zu einem Spiegel, in dem Evangeline nur noch sich selbst erblickte. Im ersten Augenblick erkannte sie sich nicht wieder.
Ihr Gesicht war schmaler als je zuvor, und die bleiche Haut spannte über den hervorstehenden Wangenknochen. Ihre Augen wirkten gehetzt und gequält. Sie versuchte zu lächeln, eine Probe für ihren Vater, doch es kam nur eine Grimasse heraus.
Evangeline hatte den Verdacht, daß es ihrem Vater ganz recht war. Dann klopfte es an der Tür. Evangeline wäre vor Schreck beinahe in Ohnmacht gefallen. Sie starrte mit leerem Blick auf die Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Shreck konnte unmöglich bereits hiersein. Waren die Sicherheitsbehörden schließlich doch gekommen, um sie schreiend und um sich schlagend abzuführen, in die Folterkammern der Hirntechs zu zerren, wo weder Vater noch Geliebter sie retten oder ihr Beistand leisten konnten? Evangeline griff eine schwere Schere von der Kommode. Nicht ganz so gut wie ein Messer, aber das Beste, was sie besaß. Sie würden Evangeline nicht lebend in die Finger bekommen. Sie würden sie töten müssen. Dann wäre endlich alles vorüber. Irgendwie verging ihre Hysterie, und Evangeline wurde ruhig. Die Schere entschlossen in der Hand, näherte sie sich vorsichtig der Tür. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie davorstand. Als sie die Tür schließlich mit leicht zitternder Hand geöffnet hatte, stand Adrienne Feldglöck vor ihr. Evangeline starrte Finlays Ehefrau an, und ihr einziger Gedanke war: Großartig. Eine weitere Komplikation.