Also hatte er die Angelegenheit abgehakt. Nichts als eine weitere böse Episode in einem bösen Imperium. Julian hatte sich mit SB Chojiro getroffen, um sie über Aurics Tod hinwegzutrösten. Sie hatten den ganzen Abend und die darauffolgende Nacht über Auric gesprochen, und am Ende hatte SB in Julians Armen gelegen und geweint. Sie hatten sich erneut getroffen, und wieder, und sich ineinander verliebt. Julian war eine Zeitlang deswegen von Schuldgefühlen geplagt gewesen, aber SB hatte sie ihm ausgeredet. Sie war überzeugt davon, daß Auric sich für sie beide gefreut hätte. Julian hatte in SBs Armen geweint und seinem Bruder endlich Lebewohl gesagt. Danach waren SB und Julian so oft zusammengewesen, wie sie es nur einrichten konnten. Es war nicht sehr oft gewesen. Der Chojiro-Clan durfte es unter keinen Umständen herausfinden. Sie waren sehr streng und hätten die Verbindung nicht gutgeheißen. Und Julian besaß Verpflichtungen gegenüber dem Untergrund. Es hatte sehr lang gedauert, bis er SB davon erzählt hatte. Zuerst schien sie überrascht gewesen zu sein, doch dann hatte sie ihn in die Arme genommen und gesagt, es wäre richtig gewesen, ihr davon zu erzählen. Nicht lange danach hatten sie ihn geschnappt. Überhaupt nicht lange.
Julian Skye blickte seine Geliebte an, die vor ihm kniete, und mit einemmal wußte er, wer ihn verraten hatte.
»Ich dachte, du hättest mich geliebt«, sagte er mühsam. »Wie konntest du mir das antun?«
»Es war nicht besonders schwierig, Liebling. Meine Loyalität hat immer zuerst dem Clan gegolten und sonst niemandem.
Auric wußte das. Er starb, weil er versuchte, ein Teil des Chojiro-Clans zu werden. Du hast mich nie nach meinem richtigen Namen gefragt. Willst du gar nicht wissen, wofür die Initialen SB stehen?«
»Du hast gesagt, ich solle nicht fragen.«
»Ja. Und du hast stets getan, was ich dir sagte. Doch allein die Tatsache, daß ich etwas so Grundlegendes vor dir verborgen gehalten habe, hätte dir zu denken geben müssen. SB ist nicht mein richtiger Name, Julian. Es ist meine Berufsbezeichnung. Ich gehöre zum Schwarzen Block.«
Die Worte trafen Julian wie Schläge. Er hatte vom Schwarzen Block gehört, aber nur Gerüchte. Der Block war das bestgehütete Geheimnis der Versammlung der Lords; eine verborgene Privatarmee aus entfernten Vettern und Basen als letzte Verteidigungslinie der Familien gegen die Imperatorin und ihre Leute. Jede Familie steuerte eine Anzahl Kandidaten bei, freiwillig oder nicht, und sandte sie zum Schwarzen Block, wo sie ausgebildet und auf vollkommene Loyalität gegenüber ihrem Clan konditioniert wurden. Bis in den Tod. Sie waren überall, unerkannt und unverdächtig, programmiert, sich den Leuten, die von Bedeutung waren, so weit wie möglich zu nähern. Im entscheidenden Augenblick würden sie die letzte vergiftete Waffe der Lords sein und auf Löwenstein und jeden anderen losgelassen werden, der versuchte, die Macht der Lords zu brechen oder ihnen ihre Position streitig zu machen. Jedenfalls erzählte man sich das. Der Schwarze Block wurde nur flüsternd erwähnt, und er war weniger als ein Gerücht. Für Löwenstein war das alles nur ein Hirngespinst. Hätte sie den Schwarzen Block ernst genommen, sie hätte nicht eher geruht, als bis der letzte Angehörige dieser geheimen Armee aufgespürt und exekutiert worden wäre. Die Imperatorin hätte eine derartige Bedrohung ihrer eigenen Machtposition niemals zugelassen.
Schwarzer Block Chojiro. Schwarzer Block. Ihrem Clan treu bis in den Tod ergeben, ohne Ehre, ohne Hoffnung.
»Unsere Liebe hat dir gar nichts bedeutet, nicht wahr?« fragte Julian schließlich.
»In meinem Leben ist kein Platz für das, was du unter Liebe verstehst. Ich hatte viel Spaß mit dir. Ich mag dich immer noch.
Deswegen will ich auch, daß du alles erzählst, was du weißt, und die Sache endlich hinter dich bringst. Der Verhörmeister ist einer von uns. Er gehört zum Schwarzen Block. Sobald er alles weiß, was er von dir wissen will, wird er dich, so gut er kann, wieder zusammenflicken, und du kannst zu mir zurückkommen. Du kannst sogar dem Chojiro-Clan beitreten, wie dein Bruder sich das immer gewünscht hat. Natürlich wird man dich zum Schwarzen Block schicken, aber es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Und anschließend ist dir egal, wer oder was du einmal warst.«
»Wenn ich rede«, begann Julian mit heiserer Stimme, »werden Hunderte sterben. Tausende werden in Gefahr geraten. Der Untergrund würde sich wieder einmal in alle Winde zerstreuen.
Vielleicht würde er sich nie wieder davon erholen. Ich kann nicht reden. Nein, es geht nicht.«
»Du wirst reden. Ich weiß, daß du reden wirst. Sprich mit dem Verhörmeister, Liebling. Tu es für mich.«
»Für dich?« Julian hätte gelacht, wenn seine Kehle nicht ausgetrocknet gewesen wäre. »Wer bist du? Ich kenne nicht einmal deinen richtigen Namen. Ich kenne dich nicht wirklich. Ich habe dich geliebt, du Hexe. Ich hätte alles für dich getan, sogar mein Leben geopfert, doch jetzt wird mir bereits bei deinem Anblick schlecht.«
»Bitte sag so etwas nicht, Julian. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander, wir beide. Erinnerst du dich noch an unseren Flug über die Rabenschreckberge? Wie wir uns auf Gravschlitten gegenseitig durch die gewaltigen Wasserfälle gejagt haben?
Oder wie wir den hellen Doppelstern beobachtet haben, der über dem Tannhäusertor funkelte? Erinnerst du dich, wie wir in der staubigen Gedenkenswüste um das Lagerfeuer getanzt und gesungen haben, als würde die Nacht niemals zu Ende gehen? Das waren schöne Zeiten, Julian. Zeiten, die wir gemeinsam verbrachten. Und es könnte wieder so sein. Wir könnten noch immer ein gemeinsames Leben leben. Es liegt in deiner Hand, Julian. Mit mir zusammen wirst du den Untergrund vergessen.«
»SB, tust du mir einen Gefallen?«
»Aber sicher, mein Liebling. Möchtest du einen Schluck Wasser?«
»Nein. Komm näher.«
Chojiro lächelte und brachte ihr Gesicht dicht vor Julians. Er konnte ihr vertrautes Parfüm riechen. Sie spitzte die Lippen zu einem Kuß. Julian nahm alle Kraft zusammen, die ihm noch verblieben war, und stieß ihr den Kopf mitten ins Gesicht. Der Stoß war nicht so heftig, wie er gewünscht hatte, doch er reichte aus, um SB nach hinten auf den Hintern fallen zu lassen.
Schock und Überraschung zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab und wichen sofort dem Ausdruck von Schmerz, als sie die Hände hochnahm und ihre blutende Nase betastete. Julian kicherte rauh, obwohl es in seinem Hals schmerzte. Chojiro blinzelte ihn unsicher aus verkniffenen Augen an, dann erhob sie sich ruckartig. Sie wischte mit dem seidenen Ärmel ihres Kimonos über das Gesicht, mit dem einzigen Erfolg, daß sie das Blut noch mehr verschmierte. Schließlich stellte sie ihre Bemühungen ein und straffte sich. SB ignorierte das Blut und lächelte Julian eigenartig spröde und befriedigt an.
»Danke sehr, Julian. Ich fing allmählich an, Mitleid mit dir zu empfinden, für alles, was du durchmachst. Du hast mir wieder in Erinnerung gebracht, warum ich dich verraten habe. Du bist Abschaum, Dreck, weniger als nichts, und du stehst so weit unter den Familien, daß wir dich und deinesgleichen von unserer Position aus nicht einmal sehen könnten, wenn wir wollten. Wenn ich daran denke, daß ich dich beinahe zu einem von uns gemacht hätte! Rede nur über den Schwarzen Block, soviel du magst. Nur der Verhörmeister wird dich hören, und er ist einer von uns. Er wird dafür sorgen, daß dein Geschrei nicht nach draußen dringt, selbst wenn er dafür die Sicherheitsaufzeichnungen manipulieren muß. Denk an mich, während er dich bearbeitet. Ich zumindest werde an dich denken.«
SB Chojiro klopfte herrisch gegen die Tür, die sogleich aufschwang. Dann blies SB Julian einen Handkuß zu und stapfte aus der Zelle, Zoll für Zoll eine vollkommene kleine Aristokratin. Julian bäumte sich gegen die Fesseln auf, aber sie gaben nicht nach. Trotzdem, Chojiro hatte einen Fehler gemacht. Sie hatte den Spinalblock nicht wieder reaktiviert. Julian konnte einen Weg finden, wie er sich das Leben nahm, um seinen Peinigern zu entkommen. Doch im Augenblick war er zu wütend, um über diese Möglichkeit nachzudenken. Julian Skye mußte leben, und er mußte entkommen, um SB Chojiro zu töten. Er würde alles überleben, was sie ihm antaten, und er würde auf den kleinsten Fehler und die kleinste Lücke warten, um ihnen zu entkommen. Und dann würde er die Folterknechte töten und jeden, der sich zwischen ihn und seine Rache an Chojiro stellte.