Doch Valentin hatte bisher vergebens gewartet. Dram hatte geschwiegen. Valentin hatte gewartet, bereit, sich gegen jeden Angriff zu wehren, doch es war nichts geschehen, und langsam reifte in ihm die Überzeugung, daß er – zumindest für den Augenblick – in Sicherheit war. Vielleicht hatte die Imperatorin erkannt, daß es nicht besonders klug war, ausgerechnet den Mann zu stürzen, von dem sie wegen des neuen Hyperraumantriebs abhängig war. Oder vielleicht wurde die Information auch zurückgehalten, um für die Zukunft ein Druckmittel gegen Valentin in der Hand zu haben. Löwenstein hatte sich in dieser Hinsicht immer recht weitsichtig gezeigt.
Oder aber… In letzter Zeit ging das köstliche Gerücht um, daß der Hohe Lord Dram nicht mehr lebte. Man hatte ihn seit Ewigkeiten nicht mehr persönlich bei Hofe gesehen. Seine einzigen Auftritte in der letzten Zeit hatten auf einem Bildschirm stattgefunden, nur Kopf und Schultern, und das hätte jeder x-beliebige Mann hinter einer digitalen Maske sein können. Die Gerüchte behaupteten, daß der Hohe Lord zu einer streng geheimen Mission aufgebrochen war, seinen Kopf in die Hände gedrückt bekommen hatte und in einer Kiste nach Hause zurückgekehrt war. Niemand hatte bisher Beweise liefern können, doch die Gerüchte stammten aus vielen voneinander unabhängigen Quellen und von verschiedenen Spionen in teilweise erstaunlich hohen Positionen. Und so wuchs in Valentin langsam, aber sicher die Überzeugung, daß etwas Wahres daran sein mußte.
Wenn Dram tot war, dann bestand die nicht geringe Wahrscheinlichkeit, daß sein Wissen um Valentins Verrat mit ihm gestorben war. Und das wiederum würde bedeuten, daß der Wolf seine Verbindungen zum Untergrund wieder aufleben lassen könnte. Wenn er wollte. Valentin schürzte die purpurnen Lippen. Nach allem, was er in letzter Zeit erreicht hatte, benötigte er den Untergrund nicht länger als Wegbereiter zur Macht.
Er kam ausgezeichnet allein zurecht. Und seine Agenten besaßen eine viel größere Chance, hinter das Geheimnis der Esper-Droge zu kommen, als er selbst jemals gehabt hätte. Nein, Valentin Wolf brauchte die Rebellen nicht länger. Valentin brauchte niemanden. Und es gab andere, drängendere Sorgen, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten.
Während der schweren Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der Wolf-Clan mit den Feldglöcks gleichgezogen und sie schließlich besiegt hatte, war das damalige Oberhaupt des Clans, Valentins Vater Jakob, getötet worden. Alle nahmen an, daß einer der Feldglöcks einen glücklichen Treffer gelandet hatte, doch in Wahrheit war es Valentins Hand gewesen, die den tödlichen Streich geführt hatte. Niemand hatte ihn bei diesem Vatermord beobachtet. Doch kurz nach Ende ces Kampfes, als alle Feldglöcks entweder tot oder geflohen waren, war die Leiche Jakobs ebenfalls verschwunden. Valentin hatte eine augenblickliche Suche angeordnet und hohe Belohnungen für die Wiederbeschaffung des Leichnams ausgesetzt, aber niemand hatte seither eine Spur von der Leiche seines Vaters gefunden.
Das konnte nur bedeuten, daß Jakob noch immer irgendwo dort draußen war. Nicht lebendig, nein. Er konnte unmöglich noch leben. Selbst wenn seine geheimnisvollen Freunde ihn auf der Stelle in eine Regenerationsmaschine gelegt hätten – es wäre längst zu spät gewesen. Sein Gehirn wäre bereits zu lange tot gewesen. In dieser Hinsicht war sich Valentin seiner Sache sicher. Das Bild des Vatermordes war noch immer klar und deutlich in Valentins Erinnerung. Eine seiner Drogen verschaffte dem neuen Wolf ein perfektes Gedächtnis, und er spielte die Szene in Gedanken immer und immer wieder durch, um sie zu genießen. Er war hinter seinen Vater getreten, unbemerkt in der Hitze des Gefechts, und hatte dem alten Herrn seinen Dolch fachmännisch zwischen die Rippen gestoßen und wieder herausgezogen. Alles war so schnell gegangen, daß niemand etwas bemerkt hatte. Jakob war tot. Daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Doch wer hatte die Leiche gestohlen?
Finlay und Adrienne waren die einzigen Feldglöcks gewesen, die dem Gemetzel entkommen konnten. Sie hatten einen Gravschlitten gestohlen und waren um ihr Leben geflohen, aber sie hatten Jakobs Leichnam nicht mitgenommen. Die externen Kameras des Feldglöck-Turms hatten Aufzeichnungen des fliehenden Schlittens gemacht, und darauf war nichts von Jakobs Leiche zu sehen. Nur zwei Leute hatten sich an Bord befunden. Unglücklicherweise konnte Valentin die Aufzeichnungen der internen Kameras nicht studieren, weil man es so eingerichtet hatte, daß alle abgeschaltet worden waren, als der Kampf begonnen hatte. Valentin hatte nicht zulassen dürfen, daß eine der Aufzeichnungen den Mord an seinem Vater zeigte. Also konnte jeder im Raum die Leiche genommen haben.
Aber wer konnte einen Nutzen aus dem leblosen Körper ziehen? Sicher, man konnte einen neuen Jakob aus den Zellen klonen. Aber wozu? Ein einfacher Gentest würde zeigen, daß der Klon nicht der echte Jakob war. Und für einen Klon würde die Familie kein Lösegeld zahlen. Selbst die trauernde Witwe Konstanze nicht… Sicher, für die Rückgabe der Leiche wäre man bereit zu zahlen, damit Jakob mit allen Ehren zur letzten Ruhe gebettet werden konnte. Aber es hatte nie eine entsprechende Forderung gegeben. Gegen seinen Willen formte sich ein neuer Gedanke in Valentins Kopf. Was, wenn… niemand die Leiche genommen hatte? Was, wenn der tote Jakob einfach aufgestanden und davonspaziert war, von jedermann unbemerkt im allgemeinen Chaos? Valentin schauderte unwillkürlich, als sich ein Bild vor sein geistiges Auge drängte. Jakobs Körper, noch immer aus der tödlichen Wunde blutend, wie er sich unsicher auf die Beine kämpfte und kurz verharrte, um seinen Mörder anzustarren, bevor er aus der Tür schlüpfte. Jakobs Körper, ungesehen in einer dunklen Seitengasse, belebt einzig und allein durch den Haß auf seinen Mörder. Irgendwo dort draußen lauerte er und wartete auf eine Gelegenheit zur blutigen Rache an seinem mörderischen Sohn. Valentin hatte immer einen Hang zum Aberglauben besessen. Meist hatte er sich nicht dagegen gewehrt, wegen des zusätzlichen Nervenkitzels, doch jetzt verfolgte ihn der Gedanke an seinen toten Vater und ließ ihn nicht mehr los. Manchmal, in der Nacht, wenn Valentin allein im Bett lag, träumte er zu hören, wie sein Vater aus der Finsternis zu ihm sprach. Die Worte erweckten pures Entsetzen in Valentin, doch morgens konnte er sich nie an sie erinnern.
Natürlich konnten das auch Nebenwirkungen seiner Drogen sein.
Valentin riß sich zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. Niemand konnte ihm Schaden zufügen. Er war jetzt der Wolf, anerkannt und unangefochten, und nichts konnte das wieder rückgängig machen, gleichgültig, was mit dem Körper seines Vaters geschehen war. Valentin hatte seine Rivalen, die Feldglöcks, zerstört, und er hielt den lukrativsten und wichtigsten Kontrakt des Imperiums in Händen: die Serienfertigung des neuen Hyperraumantriebs. Jedermann beugte den Kopf vor ihm und trat vor Valentin zur Seite. Er besaß das Ohr der Herrscherin. Die Imperatorin betrachtete Valentin als eine Art Hofnarren, Weisheit und Wahnsinn zugleich in einer unterhaltsamen Verpackung, doch wenn er sprach, hörte sie zu. Löwenstein tolerierte viel bei Valentin, das niemand sonst sich hätte erlauben dürfen, weil er sie amüsierte. Und auch, weil sie die Reaktionen der anderen Familien genoß, wenn sie feststellten, daß die Herrscherin Valentin bevorzugte oder in Positionen brachte, in denen er Macht über die anderen Clans besaß. Löwenstein war tief im Herzen ein Wesen mit einfachen Geschmäckern. Sowohl die Kirche als auch das Militär hatten deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie nicht viel von Valentin hielten. Es gab nicht viele Dinge, in denen Kirche und Militär einer Meinung waren, doch Valentin Wolf war ganz definitiv eines davon. Aber da beide Gruppen den neuen Raumschiffsantrieb benötigten, um weiterzukommen (und da keine der beiden Gruppen sich leisten konnte, gegenüber der anderen ins Hintertreffen zu geraten), blieben sie zumindest in der Öffentlichkeit höflich. Meistens jedenfalls. Keiner der Familien gefiel die Macht, die Valentin in Händen hielt. Schon allein aus dem Grund nicht, weil auf diese Weise das Kräftegleichgewicht, welches sie davon abhielt, sich gegenseitig an die Kehlen zu fahren, empfindlich gestört wurde. Doch ihre gelegentlichen Intrigen gegen den Wolf hatten bisher zu keinerlei Erfolgen geführt. Mit den Mitgliedern des Parlaments war es genau das gleiche. Sie konnten Valentin weder bestechen noch kontrollieren, weil sie nichts besaßen, das er sich wünschte. Und das machte den jungen Wolf gefährlich. Eine unbekannte Größe im Spiel, die nicht auszurechnen war.