Etwas, das eine ganze Flutwelle neuer Möglichkeiten in Gang setzen wird, und wir beide könnten darauf ganz bis nach oben reiten.«
Michael sah Lily liebevoll an, wie sie in ihrem falschen Bauernkostüm und Schultertuch dastand, doch er erwiderte nichts.
Lily liebte es, sich in der Rolle der letzten der großen Mystikerinnen zu sehen, einer heidnischen Hexe aus dunkler Vergangenheit mit seltenen und geheimnisvollen Kräften. In Wirklichkeit hatte sie lediglich ein paar uralte Bücher gelesen und sich unsterblich in die Rolle verliebt. Viel wahrscheinlicher war, daß sie lediglich eine rege Phantasie besaß, kombiniert mit einem Hauch von ESP, doch Michael war nicht so dumm, ihr seine Meinung darüber zu sagen. Er war sehr verliebt in Lily. Zudem neigte seine Geliebte zu Tobsuchtsanfällen, wenn sie sich ärgerte. Trotzdem vertraute Michael auf Lilys Intuition.
Sie hatte die höfische Politik schon immer viel besser verstanden als er. Michael Wolf würde die Augen offenhalten, wenn sie nicht vorher einfroren. Wie einige andere Teile seiner kostspieligen Anatomie.
Am Anfang hatte Michael sich nur deswegen mit Lily eingelassen, weil sich beide gelangweilt fühlten. Als Erben Jakob Wolfs stand sowohl Lily als auch Michael ein Platz im WolfClan zu, doch niemand schien es für nötig zu halten, ihnen das Gefühl zu geben, daß sie willkommen waren. Man hatte ihnen einfach keine Aufgabe im Clan zugewiesen, weder in der Politik noch im geschäftlichen Bereich. Jakob hatte die Hochzeiten in erster Linie arrangiert, um über einige Zulieferfirmen die Kontrolle zu erlangen, die an der Produktion des neuen Hyperraumantriebs beteiligt waren. Aber inzwischen hatte der Wolf-Clan die Firmen übernommen und seinem Imperium einverleibt, und Lily und Michael waren überflüssig geworden. Man durfte ihnen nicht erlauben, die Nase in die Geschäfte zu stecken, weil sie keine echten Wolfs waren und ihnen nichts von Bedeutung anvertraut wurde. Auf der anderen Seite wurden beide auch am Kontakt mit ihren eigenen Familien gehindert, weil sie Wolfs waren, wenn auch keine echten. Und da Jakob Lily und Michael ausgewählt hatte, wollten Stephanie und Daniel nichts mit ihnen zu schaffen haben. Sie brachten mühsam ein steifes Lächeln zustande, wenn das Protokoll einen öffentlichen Auftritt mit den Ehegatten verlangte, und hielten auf diese Weise den Eindruck aufrecht, daß alles in bester Ordnung war. Doch in Wirklichkeit diente diese Schauspielerei nur dem Zweck, die Kirche zufriedenzustellen und andere Familien nicht auf den Gedanken zu bringen, daß es bei den Wolfs vielleicht einen schwachen Punkt geben könnte. Die gesamte restliche Zeit hatten Stephanie und Daniel nur Augen füreinander und für das Geschäft, das sie gemeinsam leiteten. Lily und Michael waren auf sich selbst angewiesen, wenn sie sich amüsieren wollten. Von da an war alles Weitere unausweichlich. Die einzige andere Möglichkeit wäre ein Komplott gegen die Wolfs gewesen, zusammen mit einem anderen Clan, und sowohl Lily als auch Michael hatten viel zuviel Angst vor Valentin, um so weit zu gehen.
Wenigstens bis zum heutigen Tag.
In der Zwischenzeit beobachteten die Repräsentanten des Chojiro-Clans mit großem Interesse alles, was die Wolfs taten. Sie pflegten noch immer trotzig ihre orientalische Tradition und Kleidung, trotz all der Jahrhunderte, die sie sich inzwischen von den Gründern des Clans entfernt hatten. Die Chojiros hatten sich durch harte Arbeit, subtile Intrigen und Morde an jenen, die ihnen in die Quere gekommen waren, ihren Weg nach oben hart erarbeitet. Sie hatten nur wenige Verbündete unter den anderen Clans, und sie zogen es vor, für sich allein zu bleiben. So wußten die Chojiros wenigstens immer, wem sie trauen durften und wem nicht. Nach der Zerschlagung des Feldglöck-Clans waren sie unmerklich in die entstandene Lücke geschlüpft, hatten Konkurrenten und andere Bewerber durch Drohungen und ein gelegentliches stilles Blutbad verdrängt und wußten jetzt nur noch den Wolf-Clan über sich. Und da kein Chojiro jemals bereit gewesen war, sich mit der Rolle des Zweiten zufriedenzugeben, hatte ein lautloser, inoffizieller, aber nichtsdestotrotz tödlicher Krieg zwischen den beiden Familien begonnen.
Die Chojiros hatten sich auf die Herstellung von Lektronen aller Größenordnungen und ihre Programmierung spezialisiert, eingeschlossen Schiffsrechner und Kontrollsysteme. Als Ergebnis fanden die Chojiros sich in einer schwierigen Partnerschaft mit den Wolfs wieder, und niemand wagte, die Geschäfte des anderen zu stören – aus Angst, den Zorn der Imperatorin auf sich zu ziehen. Tatsächlich war die Situation so kompliziert geworden, daß beide Seiten sich widerwillig zu einem vorläufigen Waffenstillstand entschlossen hatten, während sie versuchten herauszufinden, wo, zur Hölle, sie zur Zeit eigentlich standen.
Die systematische Zerstörung der Rechner und Lektronen in der Zentrale der Steuerbehörde hatte der Reputation der Chojiros schweren Schaden zugefügt. Genau aus diesem Grund hatten sie sich heute so zahlreich bei Hofe eingefunden: um jeden daran zu erinnern, daß sie noch immer der zweitmächtigste Clan des Imperiums waren. Zur Zeit ersetzten sie auf eigene Kosten die zerstörten Rechner in der Steuerbehörde und bauten zusätzliche Sicherheitseinrichtungen ein, die verhindern sollten, daß sich ein derartiger Anschlag wiederholen konnte. Innerhalb des Clans hatten sich die Verantwortlichen für die erste Installation bereits das Leben genommen, um für ihren Fehler Buße zu tun. Bei einigen hatte man nachhelfen müssen, aber so war das eben im Imperium unter der Herrschaft der Löwenstein. Im Chojiro-Clan gab es keinen Platz für Versager und Schwächlinge. Sie waren knallharte’ Geschäftsleute, Halsabschneider, und das manchmal im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Chojiros hatten eine Kunstform aus feindlichen Übernahmen gemacht. Es gab ein Sprichwort, und viele hielten es für nicht übertrieben: Wenn du einen Chojiro grinsen siehst, dann mach, daß du verschwindest.
SB Chojiro war nur aus einem einzigen Grund hergekommen: Sie wollte als Sprecherin für ihre Familie auftreten. Sie war dazu ausgebildet, immer und unter allen Umständen ein freundliches Gesicht zu bewahren, das Gesicht einer gefürchteten Familie. SB war eine Diplomatin, eine ausgezeichnete Unterhändlerin und eine Meisterin der Täuschung. Und obwohl ihr makelloser Ruf innerhalb der Familie ein wenig von der Flucht des Espers Julian Skye befleckt worden war, gab man die Hauptschuld den Verantwortlichen für die Sicherheitseinrichtungen des Gefängnisses und betrachtete SB noch immer als absolut vertrauenswürdig. Schließlich gehörte sie zum Schwarzen Block.
In ihrer Begleitung, gekleidet in einen farblich passenden Kimono, befand sich der Investigator Razor, um jeden an die rauheren Seiten des Clans zu erinnern. Razors Gesicht und Hände zeigten Spuren erst kürzlich erlittener Verbrennungen, aber niemand war so dumm, den Investigator nach dem Ursprung der Verletzungen zu fragen. Investigatoren gaben niemals Schmerz zu. Wenn sie überhaupt welchen spürten.
Jedermann machte SB und Razor aus den verschiedensten Gründen bereitwillig Platz und erlaubte ihnen so, sich ungestört zu unterhalten. SB lächelte allen und jedem freundlich und unergründlich zu, während sie leise mit Razor sprach. Der Investigator blickte immer nur geradeaus, doch seine kalten Augen waren bereit, sich jeder Bedrohung zu stellen.
»Ich verstehe also richtig? Es hat keine weiteren Fortschritte bei der Suche nach Julian Skye gegeben?« erkundigte sich SB gerade, während ihre lächelnden Lippen sich kaum bewegten.
»Ich hätte Euch umgehend informiert, wenn wir etwas gefunden hätten. Die Sicherheitsbehörden geben sich die größte Mühe, doch die Stadt ist ein einziges Chaos. Wenn Skye dort draußen ist, werden wir ihn früher oder später finden und zurückbringen. Tot oder lebendig.«
»Ich will ihn lebend, Investigator. Ich habe eine Menge Fragen, die ich ihm unbedingt noch stellen muß. Nicht zuletzt, wie er es geschafft hat zu entkommen.«