»Ich kann nicht gerade sagen, daß es mir leid tut«, entgegnete Toby. »Valentin ist im Augenblick vielleicht die Nummer Eins, aber niemand am Hof mag ihn oder vertraut ihm gar, trotz der vielen freundlichen Gesichter, die auf ihn gerichtet sind. Eine Allianz zwischen dir und Valentin in der Öffentlichkeit in einem gutem Licht erscheinen zu lassen hätte wirklich meine gesamte Phantasie gefordert. Wahrscheinlich ist es einfacher, Leprafinger als Modeschmuck zu verkaufen. Also, was nun, Onkel? Gehen wir zu Plan B über?«
»Plan B?« erkundigte sich Grace mißtrauisch. »Niemand hat mir je ein Wort über einen Plan B gesagt. Gregor, warum redest du nicht mehr mit mir?«
»Du mußt nicht alles wissen. Halt einfach den Mund und tu, was ich dir sage. Du bleibst hier bei Toby. Rühr dich nicht von der Stelle. Ich werde mich gleich um Plan B kümmern.«
Gregor stapfte davon, ohne einen Blick zurück zu werfen. Er wußte, daß die beiden sich ohne seine Erlaubnis nicht vom Fleck rühren würden. Plan B betraf die Chojiros. Wenn die Erste Familie keinen Handel mit ihm abschließen wollte, dann eben die Zweite. Jedenfalls bestand die Möglichkeit dazu. Der Shreck stapfte durch den tiefen Schnee, und die Leute beeilten sich, ihm den Weg freizumachen. Doch er nahm davon genausowenig Notiz wie von der Luft, die er atmete. Vor SB Chojiro baute er sich auf, funkelte den Investigator neben ihr böse an – als Beweis, daß er sich nicht einschüchtern ließ – und verneigte sich anschließend knapp vor der jungen Frau. Sie verbeugte sich ebenfalls. Ruhig und selbstsicher. Razor ignorierte ihn völlig.
»Wir besitzen in den Wolfs einen gemeinsamen Feind«, begann Gregor tonlos. »Darf ich vorschlagen, daß wir uns in gegenseitigem Interesse gegen Valentin verbünden? Ihr produziert Rechner für die Raumschiffe, und ich baue die Hüllen, doch solange Valentin die Antriebe herstellt, müssen wir unsere Geschäfte so führen, wie es ihm gefällt. Wenn er genügend Duck anwendet, kann er im geeigneten Augenblick jeden von uns mit Leichtigkeit ruinieren und uns vollkommen aus dem Geschäft verdrängen, und dann gehört alles ihm allein. Ich hatte ursprünglich geplant, mit den Feldglöcks zusammenzuarbeiten, damals, als es so aussah, als würden sie die Kontrakte für die Antriebe erhalten. Wir hatten ein Abkommen, weswegen ich auch einer verbindenden Hochzeit zustimmte. Aber die Hochzeit kam nicht zustande, der Clan ging unter, und Valentin läßt nicht mit sich reden. Ich arbeite unter seinen Bedingungen oder gar nicht. Das ist vollkommen inakzeptabel. Also benötige ich einen Verbündeten, um sicherzustellen, daß ich nicht aus dem Geschäft gedrängt werde. Ihr hingegen benötigt einen Verbündeten, der Euch den Rücken freihält, während Ihr mit Valentin arbeitet. Wir könnten beide von einer derartigen Verbindung profitieren, und außerdem hat keine unserer beiden Familien einen Grund, Valentin zu lieben.«
»Wir könnten beide profitieren?« erwiderte SB. »Ich denke, da irrt Ihr. Ihr allein wärt derjenige, der davon profitieren würde, Lord Shreck. Wir brauchen Euch nicht, und Ihr habt nichts, das wir wollen. Sicher, Ihr baut die Schiffshüllen, aber das kann jeder. Und um ehrlich zu sein, Lord Shreck: Wir sind sehr wählerisch, was unsere Verbündeten angeht.«
»Ihr seid eine kleine Hexe«, zischte Gregor, und bevor er wußte, was er tat, schoß seine Hand vor und wollte SB bei der Kehle packen. Er war noch nicht einmal in der Nähe von SBs Hals, als Razor ihn packte und seine Hand abfing. Sie verschwand zur Gänze in der schwarzen Hand des Investigators.
Gregor kreischte laut, als Razor zudrückte und die Knochen in der Hand des alten Shreck aneinanderrieben. Nach einem langen Augenblick ließ Razor wieder los, und Gregor wich einen Schritt zurück, während er seine pochende Hand mit der anderen umklammerte. SB Chojiro und Investigator Razor betrachteten Gregor mit dem gleichen unpersönlichen Ausdruck im Gesicht wie zuvor, während er vor ihnen stand und vor ohnmächtiger Wut bebte.
»Dreht um und geht zu Euren Leuten zurück, Lord Shreck«, sagte Razor schließlich gelassen. Er hob nicht einmal die Stimme. Es war nicht nötig. »Ihr habt hier nichts verloren.«
Gregor stierte die beiden an, während er angestrengt über eine letzte Beleidigung nachdachte, die er ihnen an den Kopf schleudern konnte, doch am Ende blieb er stumm und wandte sich ab, um wieder durch den Schnee davonzustapfen. Diesmal beeilten sich die Leute noch mehr, vor ihm zur Seite zu weichen. Sie erwiesen ihm den gleichen Respekt wie einem wütenden Skorpion, der alles angriff, was ihm in die Quere kam.
Gregor war viel zu sehr mit seiner Wut beschäftigt, um sich daran zu stören. Er brauchte Verbündete und Unterstützung, und er mußte sie schnell finden, oder er würde höchstwahrscheinlich bald aus dem Geschäft verdrängt werden. Jeder konnte Hüllen bauen…
Gregors Allianz mit der Kirche sollte auf Dauer einiges an Nutzen bringen, doch im Augenblick benötigte er Geld mehr.
Er mußte jemanden finden. Es gab immer jemanden. Und wenn Gregor selbst erst wieder zu einer Macht geworden war, dann würde SB Chojiro dafür zahlen, daß sie es gewagt hatte, ihn zu erniedrigen. Ihn, den Shreck. Er zwang sich zu mehr Ruhe.
Gregor hatte noch immer eine Chance bei den Wolfs. Vielleicht wollte Valentin nicht mit ihm verhandeln, aber Stephanie und Daniel würden es tun, wenn man sich auf die richtige Weise an die beiden heranmachte. Sie würden mit ihm zusammenarbeiten, nur um ihrem Bruder zu trotzen. Ja, das war eine Idee! Der Shreck verlangsamte seinen Schritt und erlaubte sich ein schwaches Grinsen. Er würde wieder mächtig werden, und er würde seine Rache an seinen Feinden vollziehen. Niemand würde je wieder wagen, auf ihn herabzublicken.
Schließlich bedeutete Löwenstein den Streithähnen vor ihrem Thron mit einer Handbewegung zu schweigen und rief den Hof zur Tagesordnung. Ihre verstärkte Stimme echote durch die arktische Einöde und übertönte mühelos das Stimmengewirr der Höflinge. Innerhalb eines einzigen Augenblicks verstummten alle. Die Stille wurde nur noch vom schwachen Rauschen des eisigen Windes unterbrochen, als die Höflinge ihre Aufmerksamkeit auf die Herrscherin richteten. Sie lächelte über die versammelte Menge hinweg, doch es war kein freundliches Lächeln. Die Höflinge standen regungslos vor ihr, und Schnee lagerte sich erneut auf Köpfen und Schultern ab, bis die schweigenden Gestalten an die Schneemänner erinnerten, an denen sie auf dem Weg hierher vorbeigekommen waren. Ein paar der Anwesenden hatten den gleichen Gedanken und erschauerten unwillkürlich – aber nicht wegen der Kälte. Löwenstein funkelte Beatrice und Valentin wütend an, bis die beiden endlich aufmerksam wurden, sich vor der Imperatorin verbeugten und in die Menge zurückzogen. General Beckett und Kardinal Kassar stellten sich zu beiden Seiten des Throns auf. Sie repräsentierten Armee und Kirche, den rechten und den linken Arm der Herrscherin. Löwenstein nickte Beckett zu, und der General begann mit bellender Stimme zu sprechen, als hätte er eine Kompanie Rekruten vor sich.
»Kapitän Schwejksam, Investigator Frost und Sicherheitsoffizier Stelmach, tretet vor und gebt Euren Bericht über den Angriff der Fremden.«
Stelmach zuckte schuldbewußt zusammen und blickte anschließend gehetzt in die Runde, um zu sehen, ob jemand es bemerkt hatte. Schwejksam und Frost traten gemeinsam vor, ohne die anderen Anwesenden eines Blickes zu würdigen, bis sie schließlich vor dem Eisernen Thron stehenblieben und Haltung annahmen. Schwejksams Gesicht wirkte ruhig, doch in seinem Herzen regte sich mit einemmal neue Hoffnung. Das war es, worauf er gehofft hatte; eine Gelegenheit, seine Seite der Geschichte zu erzählen, bevor irgend jemand anderes ihn mit Dreck bewerfen konnte. Er wartete einen Augenblick, um Stelmach Gelegenheit zu geben, zu ihnen aufzuschließen, doch dann bemerkte er, daß der Sicherheitsoffizier am Rand der Menge erstarrt war, die Augen angstvoll auf die Bestie von Grendel gerichtet, die unmittelbar vor dem Thron stand.
Schwejksam konnte Stelmach gut verstehen. Das verfluchte Biest weckte auch in ihm eine Heidenangst. Er streckte den Arm aus und zog Stelmach nach vorn neben sich. Die Augen des Sicherheitsoffiziers blieben unverwandt auf die Bestie gerichtet. Schwejksam wechselte einen Blick mit Frost und bereute es im gleichen Augenblick wieder. Frost starrte ebenfalls auf die Bestie, aber mit einem hungrigen Blick, als wolle sie sich jeden Augenblick auf das Wesen stürzen und es töten, schon aus Prinzip. Schwejksam dachte einen Augenblick nach und streckte erneut die Hand aus. Er zog Frost einen Schritt zu sich zurück. Die Kreatur war das Schoßtier der Eisernen Hexe, und wenn Frost es wie durch ein Wunder tatsächlich gelingen sollte, das verfluchte Biest zu töten, wäre Löwenstein sicher überhaupt nicht darüber erfreut. Frost riß sich unwirsch los und starrte Schwejksam wütend an, aber wenigstens blieb sie stehen, wo sie war. Schwejksam beschloß, mit seinem Bericht zu beginnen, bevor weitere Unannehmlichkeiten dazwischenkommen konnten.