Vielleicht lag es an der Belastung, ein Leben als Rebellin führen zu müssen und ständig auf der Flucht zu sein. Oder es war ein Nebeneffekt einer der vielen Veränderungen, die sie im Labyrinth des Wahnsinns erfahren hatte. Egal, was – wenn Owen ihr helfen wollte, mußte er wissen, was Hazel fehlte.
Und genau das war der Grund, aus dem er sich vorgenommen hatte, hier auf Hazel zu warten, bis die Hölle einfror…, wenn es sein mußte. Owen wollte wissen, was sie in der Stadt der Hadenmänner machte. Die riesige Stadt erstreckte sich vor Owens Augen, eine Ansammlung von glänzendem Metall und Glas, ausgebreitet auf dem Boden einer gigantischen Kaverne.
Es gab Türme, schwebende Gehwege und quadratische Bauwerke mit scharfen Ecken und Kanten, und alle waren hell erleuchtet und verdrängten den düsteren Schein der Kaverne. Die Stadt war vor langer Zeit von den ersten Hadenmännern erbaut worden, und in dieser nichtmenschlichen Wiege waren sie gewachsen und mächtig geworden. Die Hadenmänner hatten die Stadt hinter sich gelassen, als sie den Krieg gegen das Imperium begonnen hatten. Die meisten waren nie zurückgekehrt. Die wenigen Überlebenden hatten sich in der Gruft niedergelegt, geschlagen und verzweifelt, und beschlossen, so lange zu warten, bis die Zeit reif war, in Glanz und Glorie wieder aufzuwachen. Während sie schliefen, hatte die Stadt sich selbst erhalten… bis vor kurzer Zeit, als sie von der Energiekanone einer Pinasse in Schutt und Asche gelegt worden war. Kapitän Schwejksam und seine Landungsmannschaft hatten nur Ruinen übriggelassen. Traurige Scherben einer großen Vergangenheit.
Inzwischen waren die erwachten Hadenmänner vollauf damit beschäftigt, ihre Stadt wiederaufzubauen. Langsam erwachte das riesige Gebilde wieder zum Leben, begann wieder zu strahlen und zu funkeln. Einer der Hadenmänner hatte Owen und Hazel zur Besichtigung der Stadt eingeladen, und allein der Anblick der rätselhaften und mißgestalteten Strukturen ringsum hatte ausgereicht, um Owen eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken zu jagen. Die Bauwerke waren nicht für menschliches Wohlbehagen oder menschliche Logik errichtet worden. Die überall herrschende Stille war merkwürdig und beunruhigend, und keine Maschine und kein Apparat durchbrach sie jemals. Kein einziges Bauwerk glich dem anderen, und überall fanden sich eigenartige Umrisse und unmögliche Winkel, wie die bedrohlichen Städte, die man hin und wieder in schlimmen Alpträumen erblickt, in jenen Stunden, in denen die Nacht am dunkelsten ist. Die Besichtigungstour hatte bei Owen und Hazel starke Kopfschmerzen hervorgerufen. Sie hatten sich bei ihren Gastgebern entschuldigt und waren so rasch aus der Stadt verschwunden, wie es, ohne unhöflich zu werden, nur möglich gewesen war. Owen war nie wieder in die Stadt gegangen, im Gegensatz zu Hazel.
Owen erschauerte plötzlich, als sein Blick über die Stadt glitt, und tief in seinem Innern regte sich die Überzeugung, daß die Stadt seine Anwesenheit spürte und ihn aus tausend verborgenen Augen beobachtete. Überall waren Haldenmänner zu sehen, führten Arbeiten durch, die Owen nicht verstand, eilten mit unbekannten Aufträgen hierhin und dorthin wie Ameisen in einem Nest – und nie, niemals sprachen sie auch nur ein einziges Wort. Immer herrschte Schweigen. Die Hadenmänner kommunizierten auf einer Ebene, die sich dem gewöhnlichen Menschen verschloß, wurden zu einer Art Kollektivbewußtsein, einem einzigen Ganzen, das weit größer war als die Summe seiner Teile, und sie arbeiteten auf ein Ziel hin, das kein Mensch je begreifen konnte. Giles Todtsteltzer, Owens verehrter Vorfahr und Ahnherr, hatte die Theorie geäußert, daß die Stadt eine physische Manifestation des Kollektivbewußtseins wäre, und wenn sie erst wieder repariert sei, dann wären auch die Hadenmänner bereit.
Owen hatte in seinem Leben nur einen einzigen Hadenmann kennengelernt, und das war Tobias Mond gewesen. Mond hatte so lange unter Menschen gelebt, daß er zu seinem eigenen Entsetzen selbst beinahe völlig menschlich geworden war. Er starb bei dem Versuch, sein Volk in der Gruft zu wecken, und er erlebte das Erwachen seiner Brüder nicht mehr. Am Ende hatte Owen die Hadenmänner geweckt…, und seitdem war kein ganzer Tag vergangen, als ihm bereits die ersten Zweifel gekommen waren, ob das eine seiner besten Ideen gewesen war.
Die Hadenmänner hatten Mond repariert, und sein Körper funktionierte inzwischen wieder völlig normal, doch Tobias Monds Bewußtsein und seine Erinnerungen waren nicht wieder zurückgekehrt. Sie waren für immer verloren, aber irgendwie empfand Owen keine Trauer deswegen. Tote sollten tot bleiben.
»Wenn Hazel noch länger dort bleibt, werden wir ein Suchkommando ausschicken müssen«, brummte die KI Ozymandius in Owens Ohr.
»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, daß ich nicht mehr mit dir spreche«, sagte Owen. »Ich weiß nicht, wer oder was du bist, aber du bist nicht mein Oz. Ich habe ihn zerstört.«
»Du bist verdammt nah dran gewesen«, erwiderte Oz leise.
»Aber knapp daneben ist halt auch vorbei. Ich bin immer noch da. Und ich wünschte, du würdest mir zuhören. Mir liegt nur unser Bestes am Herzen.«
»Du hast gar kein Herz.«
»Oh, bist du aber pingelig! Spiel dich ja nicht so auf, Owen.
Mag ja sein, daß du inzwischen ein Held bist und die große neue Hoffnung der Rebellion, aber ich kannte dich schon, da hast du nichts anderes im Kopf gehabt, als lange zu schlafen und welchen Wein du diesmal zum Abendessen trinken würdest. Ich habe nicht die Absicht zuzulassen, daß dir dein gegenwärtiger Erfolg zu Kopf steigt.«
»Wenn du wirklich Oz bist«, fragte Owen zögernd, »wie kommt es dann, daß nur ich allein dich hören kann? Wenn du auf meinem Komm-Kanal sendest, dann müßten auch andere Leute dich empfangen.«
»Frag mich nicht«, antwortete Ozymandius. »Ich bin nur eine Künstliche Intelligenz. Irgend etwas Eigenartiges ist mit mir geschehen, das ist jedenfalls sicher. Aber ich bin wieder da. Du darfst mir ruhig gratulieren.«
»Du bist ein Imperialer Spion!« knurrte Owen. »Ich habe dir vertraut und mich auf dich verlassen, seit ich ein Kind war, und du hast mich betrogen. Du hast Kontrollworte in mein Gehirn eingepflanzt und mich dazu gebracht, daß ich beinahe meine Freunde getötet hätte.«
»Man hat mich so programmiert«, verteidigte sich Ozymandius. »Ich hatte gar keine andere Wahl! Aber das ist jetzt alles vorbei, und wenn es noch immer Kontrollworte gibt, dann erinnere ich mich jedenfalls nicht an sie. Vielleicht war das alles nur ein Überzug, den das Imperium installiert hat, und du hast ihn mit deinen neuen mentalen Fähigkeiten zerstört. Im Vertrauen, Owen: Ich freue mich, daß du ein Rebell geworden bist.
Als Aristokrat hast du nie besonders viel getaugt. Außerdem will ich, daß du dem Imperium in den Arsch trittst. Man hat mich mißbraucht, um dich zu verletzen. Ich werde so etwas nie wieder zulassen.«
Owen erwiderte nichts. Ein Teil von ihm wollte glauben, daß es wirklich Oz war, mit dem er sprach, daß sein Freund wieder zurückgekehrt war, aber er hatte gespürt, wie Ozymandius in seinem Bewußtsein gestorben und wie er in einer Dunkelheit ohne Ende verschwunden war. Doch wenn das hier nicht Oz war, wer war es dann? Irgendeine andere KI, die sich über die alte Verbindung zu Oz in sein Bewußtsein schaltete? Etwas, das er im Labyrinth des Wahnsinns gefunden hatte? Oder wurde Owen einfach langsam wahnsinnig und brach unter dem Druck zusammen, einer der Anführer der neuen Rebellion zu sein? Und wenn er wahnsinnig wurde, war er verpflichtet, es den anderen zu sagen?