Sie zog die Brille mit den Binokularen aus ihrer Tasche. »Das habe ich gefunden.«
Vielleicht hatte sie auch den Betäubungsstrahler gefunden. Aber Louis fragte nicht danach. »Gut. Setz das Ding auf, und ich werde dir zeigen, wie es funktioniert.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Vermutlich befürchtete sie, er wollte sie nur ablenken, damit er sie überwältigen konnte. Sie fragte: »Was hattest du in der alten Stadt zu suchen? Wo hast du diese Werkzeuge gefunden?«
»Sie gehören mir. Ich brachte sie von einem weit entlegenen Stern hierher.«
»Mach dich nicht über mich lustig, Louis Wu.«
Louis blickte sie an. »Haben denn die Leute, die die Städte bauten, nicht solche Werkzeuge?«
»Sie hatten Geräte, die sprachen. Sie konnten ein Gebäude in die Luft heben. Vermutlich konnten sie das auch mit ihrem eigenen Körper.«
»Was sagst du zu meinem Begleiter? Hast du schon seinesgleichen auf der Ringwelt gefunden?«
»Er schien enorm groß zu sein.« Sie errötete. »Ich hatte keine Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen.«
Nein, sie war abgelenkt worden. Verrückt. »Warum zielst du dauernd mit der Waffe auf mich? Die Wüste ist unser gemeinsamer Feind. Wir sollten uns gegenseitig unterstützen.« »Ich habe keinen Anlaß, dir zu vertrauen. Jetzt frage ich mich sogar, ob du verrückt bist. Nur die Städtebauer reisten zwischen den Sternen hin und her.«
»Das ist ein Irrtum.«
Sie bewegte die Schultern. »Mußt du unbedingt so langsam fahren?«
»Ich brauche erst Übung.«
Aber Louis wurde rasch mit der Maschine vertraut. Die Straße war schnurgerade, ihre Oberfläche nicht sehr uneben, und kein einziges Fahrzeug kam ihnen entgegen. Hin und wieder trafen sie auf Sandverwehungen. Aber Valavirgillin hatte ihm gesagt, daß er deswegen nicht mit dem Tempo heruntergehen mußte.
Und so kamen sie verhältnismäßig rasch seinem eigentlichen Ziel näher. Er fragte: »Was kannst du mir über die fliegende Stadt erzählen?«
»Ich bin nie dort gewesen. Die Kinder der Städtebauer wohnen dort. Aber heutzutage bauen sie nichts mehr. Sie herrschen auch nicht mehr über das Land. Aber es ist Tradition, daß sie die Stadt behalten. Sie haben viele Besucher.«
»Touristen? Leute, die die Stadt besichtigen wollen?«
Sie lächelte. »Das ist einer von mehreren Gründen. Aber man muß eingeladen sein. Warum willst du das alles wissen?«
»Ich muß in die fliegende Stadt. Wie weit kann ich in deinem Wagen mitfahren?«
Nun lachte sie. »Ich fürchte, daß man dich niemals in die Stadt einladen wird. Du bist weder berühmt, noch mächtig.«
»Mir wird schon etwas einfallen.«
»Ich fahre bis zur Schule beim Umkehr der Flüsse. Dort muß ich berichten, was geschehen ist.«
»Was ist geschehen? Was suchtest du denn hier in der Wüste?«
Sie sagte es ihm. Es war nicht einfach zu verstehen, weil das Vokabular des Übersetzers noch große Lücken aufwies. Sie überbrückten die Lücken mit anderen Worten und füllten sie so allmählich auf.
Die Maschinen-Leute herrschten über ein mächtiges Imperium.
Unter einem Imperium verstand man auf der Ringwelt einen Zusammenschluß von mehreren fast unabhängigen Königreichen. Diese Königreiche mußten Steuern bezahlen und waren an die Weisungen des Imperators gebunden, wenn es um Krieg und Frieden ging, um die Bekämpfung des Verbrecherunwesens, um Verkehr und Fermeldewesen und manchmal sogar um religiöse Bekenntnisse und Einrichtungen. In allen anderen Dingen hatten sie sich nach ihrer eigenen Tradition gerichtet.
Innerhalb des Maschinen-Imperiums war das gar nicht so einfach, wenn man zum Beispiel bedachte, daß der Lebensstil eines Hirten-Fleischessers in Konkurrenz stand zu dem Lebensstil der Grasesser; ersterer nützte wieder den Händlern, die von den Fleischessern Lederwaren einkauften; beide, Hirten wie Grassammler, hatten wiederum ein neutrales Verhältnins zu den Kobolden. In manchen Territorien gab es eine reibungslose Zusammenarbeit der verschiedenartigen Gattungen, und alle Territorien gewährten den Kobolden Bewegungsfreiheit. Die verschiedenen Spezies hielten sich deswegen an ihre eigenen Traditionen, weil sie biologisch dafür geschaffen waren.
Kobolde war der Begriff, den Louis Wu sebst geprägt hatte. Denn Valavirgillin gab diesen Riesen einen Namen, den man als Nacht-Volk übersetzen konnte. Sie waren Müllbeseitiger und Totengräber, weshalb auch Valavirgillin die Toten nicht bestattet hatte. Die Kobolde hatten eine eigene Sprache. Man konnte sie in den Bestattungsriten unterweisen, die von den verschiedenen Religionsbekenntnissen beachtet wurden. Sie bildeten eine vorzügliche Nachrichtenquelle für die Maschinen-Leute. Angeblich hatten sie früher den Städtebauern den gleichen Dienst geleistet, als dieses Volk noch über die Ringwelt herrschte, wenn man den Sagen glauben durfte.
Und wenn man Valavirgillin glauben durfte, war das Maschinen-Imperium im Prinzip nur eine Handelsmacht, die ausschließlich ihre eigenen Kaufleute besteuerte. Je mehr sie davon erzählte, um so fragwürdiger erschien Louis der Herrschaftsanspruch dieses Imperiums. Die Königreiche mußten die Straßen unterhalten, welche die Territorien des Imperiums miteinander verbanden, falls die Bewohner dieser Königreiche dazu in der Lage waren. Das galt (zum Beispiel) nicht für die Hängenden Leute, die auf Bäumen lebten. Zudem stellten die Straßen die Grenzen zwischen den Territorien dar, die von verschiedenartigen hominiden Spezies beherrscht wurden. Straßenüberschreitende Eroberungskriege waren verboten. Und daher verhinderten die Straßen (manchmal) durch ihre bloße Existenz den Ausbruch eines Krieges.
Das Imperium war ermächtigt, Armeen auszubilden, um Banditen oder Diebe zu bekämpfen. Ländereien von erheblichem Umfang, die das Imperium für sich beanspruchte, um dort Handelsposten zu errichten, wurden in der Regel zu eigenständigen Kolonien. Weil die verschiedenen Königreiche des Imperiums durch Straßen und Fahrzeuge miteinander verbunden waren, waren diese Königreiche auch verpflichtet, den für die Fahrzeuge nötigen chemischen Treibstoff herzustellen und für diese bereitzuhalten. Das Imperium kaufte Bergwerke (durch Zwangsverkäufe?), beutete die Bodenschätze selbst aus und vergab Lizenzen, die den Lizenznehmer ermächtigten, Maschinen nach den Spezifikationen des Imperiums herzustellen.
Für die Händler gab es eigene Schulen. Valavirgillin und ihre jetzt toten Freunde waren Studenten an der Hochschule am Umkehr der Flüsse. Auch ein Lehrer war unter den Toten gewesen, unter dessen Leitung sie einen Ausflug zu einem Handelszentrum gemacht hatten, das an der Grenze des Dschungellandes errichtet war, wo die Hängenden Leute — menschliche Kletterwesen, vermutete Louis, die gegen Nüsse und getrocknete Früchte andere Waren eintauschten — und die Hirten, die Fleischesser, wohnten, die Lederwaren und Handarbeiten verkauften. (Nein, sie waren nicht klein und rothäutig. Es handelte sich um eine andere Spezies.) Von dort aus hatten sie einen Abstecher in die uralte Wüstenstadt gemacht.
Auf Vampire waren sie nicht gefaßt gewesen. Wo wollten die Vampire in dieser Wüste Wasser finden? Wie kamen sie überhaupt dorthin? Vampire waren ausgestorben, bis auf.
»Bis auf was? Ich habe da, glaube ich, ein Wort überhört.«
Valavirgillin errötete. »Ältere Leute halten sich zuweilen zahnlose Vampire für. zum Zwecke des Rishathra. So können diese Vampire sich wieder vermehrt haben. Ein zahmes Paar ist irgendwo ausgebrochen. Oder ein schwangeres Weibchen.«
»Vala, das ist ja widerlich.«
»Das ist es«, stimmte sie ihm kalt zu. »Ich habe noch nie gehört, daß jemand offen zugegeben hätte, daß er sich Vampire wie Haustiere hielte. Aber gibt es dort, wo du herkommst, nicht auch ein paar Leute, die etwas tun, was andere vielleicht widerlich oder abscheulich finden?«