Er kroch wieder aus der Inspektionsluke. Er hatte sich von Whil dicke Handschuhe und eine Rundzange mit nadelfeinen Spitzen geben lassen. Er schnitt ein Stück vom Rand des schwarzen Tuches ab, das er in seiner Westentasche bei sich führte, und drehte es zusammen. Er spannte es zwischen zwei Kontakten aus und befestigte es dort.
Aber nichts Auffälliges geschah. Er setzte den Weg durch den Schneckengang fort, kroch dicht hinter Whil her. Alles in allem fand er sechs wurmförmige Staubspuren. Er befestigte sechs zusammengedrehte Streifen von seinem Superleiter-Tuch an Stellen, wo sie seiner Ansicht nach hingehörten.
Endlich kam er wieder aus dem Schneckengang heraus. »Es könnte natürlich sein, daß die Energiezufuhr vor vielen Jahren ausgefallen ist«, sagte er.
»Wir werden es erleben«, erwiderte die alte Dame. Sie stieg die Treppe bis zum Dach und dem Trichterrand hinauf. Louis und Whil folgten ihr.
Die glatte Oberfläche des Trichters schien sich mit einem leichten Niederschlag überzogen zu haben. Louis kniete sich auf den Trichterrand und berührte die Metallwand. Sie war naß. Das Wasser war warm. Schon bildeten sich große Tropfen, die abperlten und an dem Trichter hinunterrollten bis zu einem Sieb über einer Rohranlage. Louis nickte nachdenklich. Er hatte wieder eine gute Tat vollbracht, die in fünfzehn Falans bedeutungslos sein würde.
20. Der Clan der Familien
Knapp unterhalb der breiten Hüfte des Doppelkegels befand sich ein Raum in dem Lyar-Gebäude, der eine Kombination aus Empfangshalle und Schlafzimmer darstellte. Ein riesiges kreisrundes Bett mit einem Betthimmel, Sofas und Sessel waren um große kreisrunde Tische gruppiert. Eine Fensterwand schaute auf die Schattenfarm hinunter; eine Bar zog sich an einer anderen Wand hin, groß genug, um den Gästen eine riesige Auswahl von Getränken zu bieten. Aber die Auswahl gehörte der Vergangenheit an. Laliskareerlyar goß aus einer Kristallkaraffe etwas in ein Trinkgefäß mit zwei Henkeln, nippte an dem Gefäß und reichte es dann Louis weiter.
Er fragte: »Werden hier Audienzen abgehalten?«
Sie lächelte. »So könnte man es nennen. Familientreffen.«
Orgien? Sehr wahrscheinlich, falls Rishathra die wichtigste Einrichtung war, um die Lyar-Familie zusammenzuhalten. Eine Familie, über die eine schwere Zeit gekommen war. Louis nippte an dem Trinkgefäß. Es war der gleiche Nektar, den er von Vala erhalten hatte. Die Sitte, aus einem Gefäß zu trinken und zu essen — stand die Furcht vor einem Gift dahinter? Aber sie benahm sich so natürlich und ungezwungen, als sie ihm das Gefäß reichte. Und schließlich gab es ja keine Krankheiten auf der Ringwelt.
»Was du für uns getan hast, wird unser Prestige und unser Vermögen mehren«, sagte Laliskareerlyar. »Nun sage, was du dafür haben möchtest.«
»Ich muß die Bibliothek erreichen, sie betreten und die Leute, die die Bibliothek beherrschen, dazu überreden, daß ich frei darüber verfügen kann.«
»Das wird sehr teuer für uns werden.«
»Aber es ist nicht unmöglich, nicht wahr? Das ist gut.«
Sie lächelte. »Viel zu teuer für uns. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gebäuden sind sehr verwickelt. Der Zehner-Klub beherrscht den Tourismus.«
»Zehner-Klub?«
»Zehn große Gebäude, Louis Wu, die mächtigsten der Stadt. Neun von ihnen haben immer noch Beleuchtungsanlagen und Wasserkondensatoren. Sie haben die Brücke auf den Himmelshügel erbaut. Deshalb beherrschen sie auch das Touristik-Gewerbe, bezahlen Gebühren an die geringeren Gebäude, um sie für die Unterbringung von fremden Gästen zu entschädigen, die Gebühren zu bezahlen, wenn die Gäste öffentliche Gebäude besuchen und die Kosten zu bestreiten, wenn in privaten Gebäuden Sonderveranstaltungen für fremde Gäste abgehalten werden. Dafür haben sie das Recht, alle Verträge mit anderen Rassen abzuschließen; zum Beispiel mit den Maschinen-Leuten, die uns mit Wasser versorgen. Wir müsen dem Zehner-Klub dafür Wassergebühren bezahlen und Abgaben für Sonderkonzessionen. Deine Bitte fällt unter diese Sonderkonzession. obwohl wir bereits Gebühren an die Bibliothek abführen — eine Ausbildungssteuer.«
»Die Bibliothek gehört zum Zehner-Klub?« »Ja, Luweewu, wir haben nicht soviel Geld, um diese Sonderkonzession bezahlen zu können. Gibt es eine Möglichkeit, daß du der Bibliothek einen Dienst erweisen kannst? Vielleicht sind die Nachforschungen, die du in der Bibliothek anstellst, für den Zehner-Klub wertvoll.«
»Das wäre möglich.«
»Sie würden uns einen Teil der Konzessionsgebühren zurückerstatten, wenn du ihnen einen Dienst leistest. Vielleicht können sie dir mehr geben als wir. Aber wir haben das Geld nicht, um dir eine Sonderkonzession zu erwirken. Könntest du ihnen deine Licht-Waffe verkaufen oder die Maschine, die für dich redet?«
»Ich glaube, beides sollte ich lieber behalten.«
»Oder kannst du noch andere Wasserkondensierer reparieren?«
»Vielleicht. Sagten Sie nicht eben, daß ein Gebäude vom Zehner-Klub einen defekten Wasserkondensierer besitze? Warum gehört es dann noch dem Zehner-Klub an?«
»Das Orlry-Gebäude gehört seit dem Fall der Städte zu diesem Klub. Kraft Traditionsrecht gehört es immer noch dazu.«
»Was für eine Funktion erfüllte das Gebäude, als die Städte zerfielen?«
»Es war eine militärische Anlage, ein Lagerhaus für Waffen.« Sie ignorierte Louis' Lachen. »Sie haben eine Schwäche für Waffen. Dein Licht-Werfer.«
»Den möchte ich ihnen lieber nicht anvertrauen. Aber vielleicht sind sie schon damit zufrieden, wenn ich ihnen den Wasserkondensierer instandsetze.«
»Ich werde mich erkundigen, welche Gebühren sie verlangen, damit du das Orlry-Gebäude betreten kannst.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Nein. Wächter müssen dich begleiten, damit du keine Waffen aus dem Gebäude stiehlst. Du mußt eine Eintrittsgebühr bezahlen, damit du die alten Waffen überhaupt sehen darfst, und diese Gebühr verdoppelt sich, falls die Warfen vorgeführt werden sollen. Wenn du Zutritt zu den technischen Anlagen erhältst, könntest du vielleicht ihre Schwächen auskundschaften. Ich muß mich erst erkundigen, was es kostet.«
Sie erhob sich aus einem Sessel. »Sollen wir jetzt das Rishathra vollziehen?«
Louis hatte diese Frage eigentlich schon früher erwartet, und es lag nicht an Laliskareerlyars seltsamer Erscheinung, daß er zögerte, sondern an der Angst, seinen Panzeranzug und seine Werkzeuge abzulegen. Er erinnerte sich an ein altes Bild von einem König, der auf seinem Thron saß und vor sich hinbrütete. Ich bin paranoid. Aber bin ich auch paranoid genug?
Aber reif für das Bett war er schon lange. Er mußte den Lyars blindlings vertrauen. »Gut«, sagte er und begann sich seines Schutzanzuges zu entledigen.
Das Alter hatte eine seltsame Verwandlung mit Laliskareerlyar vorgenommen. Louis kannte noch Bilder und Schilderungen aus der Literatur und Theaterstücken, die vor der Erfindung der Verjüngungsdroge verfaßt worden waren. Das Alter war eine die Menschen verkrüppelnde Krankheit. aber die Frau war nicht verkrüppelt. Zwar hing die Haut nur lose an ihrem Körper, und ihre Glieder waren nicht so biegsam wie bei Louis. Aber sie besaß eine schier endlose Neugierde, was die Liebe betraf und die ihr ungewohnten Reaktionen von Louis Körper.
Es dauerte sehr lange, ehe er einschlafen durfte. Er hatte ihre Neugierde nicht befriedigt, als sie ihn fragte, was die Plastikscheibe unter seinem Zopf bedeutete. Er wünschte, sie hätte ihn nicht daran erinnert. Der Hinterste hatte noch einen funktionierenden Wonnestecker. und er verdammte sich dafür, daß er sich danach sehnte.