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Für Gulja

Kinder können Krieg gegen Erwachsene führen. Erwachsene führen auch Krieg gegen Kinder. Sie sind verroht. Aber auf keiner Welt bekriegen sich Kinder untereinander. Sie sind noch nicht vollkom men verrückt geworden!

Wladislaw Krapiwin

Erster Teil

Burgen und Brücken

MORGENDÄMMERUNG

Früher wollte ich immer die Morgendämmerung sehen. Nein - nicht den Sonnenaufgang, da beginnt ja schon der Morgen. Sondern ich wollte genau den Moment abpassen, in dem die Nacht sich zurückzieht, in dem der dunkle Himmel fliederfarben und durchsichtig wird, mit einem Hauch Rosa im Osten. Aber es ist gar nicht so einfach, diesen Augenblick der Dämmerung zu erhaschen. Das ist fast so schwierig, wie den Moment, in dem man einschläft, bewusst zu erleben.

Eben noch herrscht tiefste, stockfinstere Nacht, als hätte sie noch einmal neue Kraft geschöpft in den Stunden vor Tagesanbruch. Doch dann verändert sich plötzlich etwas, unmerklich. Es vergeht noch die eine oder andere Minute, und auf einmal bemerkst du, wie Licht in die Finsternis sickert: Schwarze, unheimliche Silhouetten verwandeln sich in gewöhnliche Bäume, der Himmel wird klar und zartviolett. Das ist die Morgendämmerung! Wahrscheinlich kommt sie, wenn man die Nacht einfach nicht mehr ertragen kann. Dann ist noch nicht Morgen, es ist einfach das Ende der Dunkelheit. Das ist die Morgendämmerung!

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EIN FOTO FÜR DIE ZEITUNG

Es geschah in einem fremden Stadtviertel. Ich balancierte eine schmale Bordsteinkante entlang und hielt dabei die Arme gespreizt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das war natürlich kindisch, aber ich hatte einfach schlechte Laune.

Der Sommer verlief trostlos. Dabei hatte er ganz gut angefangen: Die siebte Klasse hatte ich mit tadellosen Noten abgeschlossen und rückte gleich in die neunte Klasse vor. Das lag nicht daran, dass ich ein Wunderkind bin und den Stoff der achten Klasse in ein paar Wochen lernen kann. Es ergab sich durch eine alberne Reform, der zufolge die Schule in Zukunft im Alter von sechs Jahren beginnen sollte und die Gesamtschulzeit auf elf Jahre begrenzt wurde. Deshalb wurden wir alle von der siebten in die neunte Klasse versetzt, was uns natürlich nur recht war. Wenn man nach dem Alter gefragt wurde, konnte man nun sagen: »Ich gehe in die neunte Klasse.« Das klingt doch schon ganz anders, als wenn man sagt: »Ich bin vierzehn.« Ein feiner Unterschied, nicht wahr?

Doch dann ging alles schief. Als hätten meine Freunde sich untereinander abgesprochen, fuhren sie alle gleichzeitig in irgendwelche Sommerlager oder mit den Eltern in schicke Badeorte. Einer war sogar in einem internationalen Computercamp und hatte mir ein Foto geschickt, auf dem er Arm in Arm mit zwei Amerikanern posierte.

Ich sprang von der Bordsteinkante und stand an der Ecke einer kleinen Querstraße. Es gibt ja nichts Langweiligeres, als alleine durch Straßen zu laufen, die man von Kind auf kennt. Zumal unsere Stadt, wie die meisten Städte in der Umgebung, klein ist. Sie hat zwar einen Sonderstatus, weil es bei uns Fabriken gibt, in denen Satelliten und jede Menge Geheimtechnik gebaut werden. Aber das ist höchstens für ausländische Spione interessant.

Es blieb mir also nichts anderes übrig, als in der Stadt herumzuhängen und, so gut es ging, die Autorität unseres Viertels zu wahren, was hauptsächlich bedeutete, Prügeleien mit Jungs anderer Cliquen anzuzetteln.

Zwei Typen gingen an mir vorbei, vielleicht ein oder eineinhalb Jahre jünger als ich. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass einer von ihnen demonstrativ auf die Straße spuckte und mir verstohlen hinterhersah. Die beiden waren noch zu klein, um sich ernsthaft mit mir anzulegen, auch wenn ich der Fremde in ihrem Stadtviertel war. Immerhin fühlten sie sich mutig genug, in meiner Gegenwart verächtlich auszuspucken.

Ich blieb stehen und drehte mich zu den beiden um. »Wollt ihr eins auf die Schnauze?«, fragte ich mit gespielter Freundlichkeit.

Die beiden Jungen schwiegen betreten, denn sie wussten genau, dass ein falsches Wort ihnen eine handfeste

Mir selbst war auch nicht nach einer Rauferei zumute. Ich grinste überlegen und ging weiter. Die Jungs zischten mir irgendetwas hinterher, um sich einen Rest an Ehre zu bewahren, aber so leise, dass ich darauf verzichtete, mich abermals umzudrehen und die Unterhaltung fortzusetzen.

Ich wollte zum Park. Dort würde ich vielleicht Bekannte treffen, die sich schon am Morgen zum See aufgemacht hatten. Schlimmstenfalls würde ich eben alleine baden müssen.

In unserer Stadt gibt es einen wunderschönen Park mit riesigen, teilweise über hundert Jahre alten Bäumen. Als man die Stadt baute, blieb der Wald an dieser Stelle unberührt, man entfernte nur Buschwerk und alte, abgestorbene Bäume.

An dem kleinen See inmitten des Parks hatte man einen makellosen Sandstrand aufgeschüttet. Ich stellte mir vor, wie ich mich in Windeseile ausziehen, meine Klamotten auf eine Bank werfen und ins Wasser laufen würde. Meine Laune besserte sich augenblicklich. Was gibt es Schöneres in den Ferien als Sonne, Hitze und ein kühlendes Bad? Na, höchstens ein richtig spannendes Abenteuer.

Da hörte ich auf einmal eine laute Stimme hinter mir. »Hey, du!«

Ich drehte mich um und sah einen groß gewachsenen Mann, den ich nicht kannte, auf mich zulaufen. Um seinen Hals hing eine lederne Fototasche, und sein Gesicht

Was dieser Kerl wohl von mir wollte?, überlegte ich und nahm gleichzeitig den Verkehrslärm von der Straße und das endlose Geplapper alter Frauen auf einer Parkbank wahr. Hier konnte ja wohl kaum etwas Außergewöhnliches passieren, am Eingang des Parks, um die Mittagszeit an einem heißen Sommertag, vor allen Leuten. Das dachte ich damals.

Der Mann mit der Fototasche blieb keuchend vor mir stehen, strich sich die Haare aus dem Gesicht, lächelte zufrieden und fragte: »Junge, willst du dich für die Zeitung fotografieren lassen?«

Um ehrlich zu sein, auf so eine Frage gibt es nur eine Antwort. Der Mann wartete mein Einverständnis auch gar nicht erst ab. Hektisch hantierte er an seiner Kamera und redete ununterbrochen auf mich ein. Er sei Reporter der Stadtzeitung, es ginge um einen großen Artikel über die Jugend in unserer Stadt, und natürlich bräuchte man dazu ein paar anständige Fotos von jungen Leuten. Irgendetwas an mir hatte dem Journalisten anscheinend gefallen, und nun wollte er unbedingt ein Foto von mir für seinen Artikel.

Ich hatte noch nie im Leben einen richtigen Zeitungsreporter gesehen, aber auf jeden Fall hätte ich mir so jemanden anders vorgestellt, sicher nicht so verschwitzt und zerzaust. Wenn mich dieser Typ gefragt hätte, ob ich ihn zu einem anderen Platz begleiten würde, um das Foto zu machen, hätte ich das garantiert abgelehnt - es gibt ja solche und solche Leute. Der Reporter jedoch fand den belebten Park mit den neugierigen alten Frauen und einem

Allem Anschein nach bin ich wirklich ausgesprochen fotogen, das behauptete auch meine Klassenkameradin Inga, ein sehr nettes und kluges Mädchen übrigens. Allerdings weiß man bei ihr nie so recht, ob sie etwas ernst meint oder nur im Scherz sagt. Manchmal streite ich mich deswegen sogar mit ihr.

Der Reporter nahm mich mit seiner Kamera ins Visier. Um seinen Mund spielte ein eigenartiges Grinsen. Ich dachte, so sehe ich aus, wenn ich mich schuldig fühle, mich aber nicht traue, etwas zuzugeben. Mit einem Mal bekam ich Angst. Doch der Finger des Reporters senkte sich bereits auf den Auslöser.

Die Kamera klackte. Sie klackte außergewöhnlich laut, das Auslösergeräusch normaler Kameras ist viel leiser.