Chris klopfte Maljok, der unruhig von einem Fuß auf den anderen hüpfte, kräftig auf die Schulter: »Vorwärts, jetzt kannst du dich austoben!«
9
DAS UNGLÜCK
Noch unter dem Eindruck des gestrigen Kampfes hatte ich mich innerlich darauf eingestellt, dass mir heute etwas Ähnliches blühte. Allerdings lag ich damit völlig falsch! Ohne jede Eile schlenderten wir bis zur Mitte der Brücke. Dort hatten sich bereits drei Jungen von der Insel Nr. 12 eingefunden und es sich bequem gemacht. Ich traute meinen Augen kaum, als ich bemerkte, dass einer von ihnen ein Schwarzer war. Noch während ich ihn überrascht anstarrte, stellte sich heraus, dass er sogar ganz passabel Russisch sprach.
»Schau an, die Sechsunddreißiger sind da«, rief er uns zur Begrüßung zu. »Ihr lange schlafen, wir schon beschlossen, euch wecken gehen!«
»Uns braucht man nicht zu wecken, Salif, wir sind stets bereit«, rief Tolik zurück und winkte ihm freundschaftlich zu.
»Jaja. Unsere Pioniere - immer bereit«, lachte der Schwarze.
Etwa zehn Meter von den Jungen von der Nr. 12 entfernt blieben wir stehen.
Ilja gähnte ausgiebig und blickte zum Himmel. »Verdammt heiß heute«, murmelte er. Dann streckte er sich auf den warmen Marmorplatten aus.
Zwei Jungen auf der anderen Seite, die auf der Balustrade gesessen hatten, taten es ihm gleich. Nur der schwarzhäutige Salif blieb ans Geländer gelehnt stehen
Als Tolik meinen neugierigen Blick bemerkte, rief er: »Salif, wir haben einen Neuen dabei, zeig ihm doch mal deinen Jatagan. Du kriegst ihn auch wieder, Ehrenwort.«
Ich war mir sicher, dass Tolik nur einen albernen Scherz machte, doch Salif bückte sich und ließ seine Waffe mit einem kräftigen Schubs über den glatten Marmorboden sausen, wo sie unmittelbar vor meinen Fußspitzen liegen blieb. Als ich sie aufgehoben hatte und neugierig bestaunte, hätte ich sie vor Schreck beinahe wieder fallen lassen, denn vor meinen Augen begann sie sich zu verwandeln: Der Elfenbeingriff und die funkelnde Stahlklinge verblassten und zerflossen gleichsam zu stumpfem Holz. Ungläubig ließ ich die hölzerne Klinge durch meine Hand gleiten und zog mir prompt einen Schiefer ein. Tolik lachte schadenfroh. Verärgert über meine Ungeschicktheit, warf ich den Jatagan etwas zu schwungvoll in hohem Bogen zurück. Im letzten Moment, bevor er über die Balustrade hinaussegeln und ins Meer fallen konnte, fing Salif ihn geschickt auf und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Mir war das sehr peinlich.
»Woher hast du denn dieses coole Messer?«, fragte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen.
»Das ist traditionelle Waffe meines Stammes«, antwortete er, über das ganze Gesicht grinsend.
»Seit wann ist ein Jatagan eine afrikanische Waffe?«, fragte ich zu Tolik gewandt, woraufhin Salif so laut zu wiehern anfing, dass man es wahrscheinlich auf allen vierzig Inseln hörte.
»Dachtest du etwa, er ist aus Afrika?«, prustete Tolik.
»Ja, nein, ähm …«, stammelte ich.
»Du hast es mit einem Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika zu tun«, setzte Tolik mich ins Bild. »Soweit ich weiß, heißt er George, und geboren wurde er in Tschi…«
»Tolik!«, unterbrach ihn Salif entrüstet. »Du bekommst Krieg mit mir! Du hast mein Militärgeheimnis verraten.«
»Schon gut, Salif. Ich bin schon still«, beschwichtigte Tolik. Dann wandte er sich zu mir und flüsterte: »Dimka, du musst dich daran gewöhnen, dass hier der eine oder andere vor Langeweile zu spinnen beginnt.«
»Das macht ja auch gar nichts. Nur wenn einer seinen Frust an den anderen auslässt, wird’s problematisch«, sagte plötzlich Meloman, der uns offenbar zugehört hatte, obwohl er sich wie immer die Kopfhörer in die Ohren gestöpselt hatte und mit halb geschlossenen Augen dastand. An seiner Brust baumelte der Disc-Man, der mit einem Solarmodul ausgestattet war.
»Jedenfalls haben hier alle Probleme mit der Langeweile«, fuhr Tolik fort. »Die einen schieben einfach nur Frust, andere werden aggressiv und stürzen sich blindlings in den Kampf. Und der schwarze Junge dort drüben spinnt eben ein bisschen herum und gibt sich als junger Krieger eines Menschenfresserstammes aus. Salif hätte dir noch weiß der Geier was alles erzählt, wenn ich ihn nicht gebremst hätte. Der Jatagan ist natürlich eine türkische Waffe. Ihre Insel, die Nr. 12, grenzt an die Insel Nr. 14, dort leben fast nur Türken. Es sieht so aus, als glaubten die Vierzehner wirklich, dass sie alle Inseln erobern können, jedenfalls haben Geo… ähm, Salif und seine Freunde ihre liebe Not mit ihren ständigen Attacken. Dagegen ist die
»Aber gestern haben die Jungs doch erzählt …«
»Ilja und Kostja?«, unterbrach mich Tolik. »Wenn du denen mehr glaubst, bitte.«
»Moment mal«, widersprach Ilja empört. »Gestern gab es wirklich ein heftiges Gefecht hier.«
Allmählich wurde ich träge und schläfrig. Der schwache Wind, der über die Brücke blies, war so heiß, dass er keinerlei Erfrischung spendete. Für eine Weile legte ich mich in die Sonne, dann schlenderte ich gelangweilt herum und sah aufs Meer hinunter. Immerhin wurde mir dabei nicht mehr schwindlig, offenbar gewöhnte man sich mit der Zeit an die Höhe.
Plötzlich zuckten von unserem Wachturm zwei Lichtblitze zu uns herüber.
»Die Mädchen werden uns gleich das Mittagessen bringen«, erläuterte Ilja. »Wir haben dort einen großen Spiegel aufgestellt, den man quasi als Lichttelegraf benutzen kann.«
Ich nickte anerkennend und musterte Iljas Brille, deren einer Bügel mit Draht notdürftig befestigt und deren Gläser beide gesprungen waren.
»Ilja, wie alt ist deine Brille schon?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
»Die gehört gar nicht mir. Meine eigene ist, schon einen Monat nachdem ich hier ankam, kaputtgegangen. Diese hier ist ein Beutestück, Chris hat sie mir vor einem Jahr organisiert. Die Gläser sind zwar ein bisschen
Auf welche Weise Chris ihm die Brille »organisiert« hatte, wollte ich gar nicht so genau wissen, es war ohnehin klar, dass niemand sie freiwillig hergegeben hätte.
»Brillenträger haben es schwer hier«, warf Meloman ein. »Wenn ihre Brille kaputtgeht, sind sie eigentlich geliefert. Und Kranke haben es auch schwer, Herzkranke oder Diabetiker zum Beispiel. Es gibt ja keine Medikamente. Auf der Insel Nr. 30 ist so einer aufgetaucht, der ist nach einer Woche gestorben. Nicht im Kampf wohlgemerkt, sondern einfach so.«
»Ohne deinen Disc-Man würdest du auch krepieren«, konterte Ilja bissig. »Du wirst schon sehen, wenn der mal den Löffel abgibt, dann legst du dich ins Bett und bist nach einer Woche hinüber.«
»Lässt du mich mal reinhören?«, bat ich Meloman.
Bereitwillig reichte er mir sein kleines, rundes Abspielgerät, das aussah wie eine fliegende Untertasse im Miniaturformat. »Weißt du, ich habe nur drei CDs, die kann inzwischen außer mir sowieso schon keiner mehr hören«, sagte er lachend.
Als ich die Kopfhörer aufsetzte, erklang eine heisere Männerstimme, die kurze, schneidende Phrasen stakkatoartig aneinanderreihte:
In des Spiegels matter Trübe
sehn wir uns und lächeln mild,
doch das ist nur eine Lüge,
uns hat erhascht das Spiegelbild.
»Ist das Zeitspirale?«, fragte ich.
Er nickte schweigend und machte ein zufriedenes Gesicht. Aus den Kopfhörern hämmerte ein treibender, einnehmender Rhythmus, unter dessen Eindruck ich jede Muskelfaser anspannte, als stünde mir eine Schlägerei oder ein Sprung ins kalte Wasser bevor.
Allzu gern wärn wir entfleucht,
doch bleiben wir am Rahmen kleben,
aus der Scheibe tränenfeucht