lachen Fratzen uns entgegen.
Mit einem schnellen Ruck zur Seite
hab’n wir uns davongestohlen,
doch die flinke Spiegelmeute
hat’s geschafft, uns einzuholen.
Die CD war zu Ende. Gerade als ich sie wieder von vorne starten wollte, sah ich Tanja die Brücke entlangkommen, sie brachte einen riesigen Topf Essen. Auch unsere »Feinde« wurden verköstigt, bei ihnen fand sich ein kleiner Junge mit einer großen Tasche ein, die er kaum schleppen konnte.
In aller Ruhe aßen wir zu Mittag. Unser Brot teilten wir mit den Jungen von der Insel Nr. 12, die uns ihrerseits einige saftige Äpfel abgaben. Tanja leistete uns eine Zeit lang Gesellschaft und wäre wohl gern noch geblieben, wenn Tolik sie nicht unmissverständlich zur Burg zurückgeschickt hätte.
»Du bist noch zu klein«, erklärte er trocken. »Außerdem haben Mädchen auf der Brückenwache nichts verloren.«
»Haben sie wohl!«, giftete Tanja beleidigt. »Auf der Insel Nr. 2 zum Beispiel.«
»Pah, das glaubst du doch selbst nicht«, fertigte Tolik sie ab und erzählte mir kurz darauf, dass es Gerüchte gäbe, wonach auf der weit entfernt liegenden Insel Nr. 2 ausschließlich Mädchen das Sagen hätten und die Jungen von ihnen vertrieben oder sogar getötet würden.
Während Tanja davontrottete, wandten wir uns wieder dem Nichtstun zu. Die Sonne sank allmählich auf den Horizont hinab, während der Wind gleichzeitig zunahm, als würde sich die schwindende Kraft der Sonne auf ihn übertragen. Ich kauerte mich auf dem noch warmen Marmor zusammen, zum einen, weil es rasch kühler wurde, zum anderen, weil die Brücke im Wind zu schwanken begann, was in meinem Magen wie schon am ersten Tag ein höchst unangenehmes, flaues Gefühl auslöste.
»Das ist wie auf einem Schiff bei hohem Seegang«, sagte Ilja, dem das Geschaukel Spaß zu machen schien. »Bei Sturm ist es noch viel besser hier oben. Manchmal reichen die Wellen bis auf halbe Höhe zur Brücke herauf.«
»Wir sind aber doch hundert Meter über dem Meer hier«, gab ich verwundert zu bedenken.
»Du wirst ja sehen«, entgegnete er stur.
In diesem Augenblick blitzte auf unserem Wachturm ein Lichtschein auf, der mich regelrecht blendete.
»Mist …«, zischte Tolik, sprang auf und spähte zum Wachturm hinüber. Nach einer halben Minute wiederholte sich das Lichtzeichen.
Ilja legte die Stirn in Falten. Meloman nahm die Kopfhörer ab. Die Jungen von der Nr. 12 registrierten aufmerksam die Unruhe auf unserer Seite.
»Salif!« Tolik legte sein Schwert auf den Boden und
»Kehrt zur Burg zurück, Jungs, und seht mal nach, was sich auf der Nordbrücke tut. Ich halte hier allein Wache«, rief er seinen Gefährten zu.
Wortlos machten sich diese auf den Weg zu ihrer Burg. Tolik gab Salif kurz die Hand und kehrte zu uns zurück. Er sah außergewöhnlich besorgt aus.
»Kannst du hier allein Wache halten?«, fragte er Meloman.
Meloman nickte schweigend.
Tolik wandte sich mir und Ilja zu: »Vorwärts, im Laufschritt zurück zur Burg!«
Ich verzichtete darauf, überflüssige Fragen zu stellen. Das Lichtsignal hatte offensichtlich bedeutet, dass wir schnellstens zur Insel zurückkehren sollten.
Während wir zur Burg hinunterliefen, kam mir der Gedanke, dass man auf den Brücken entweder gemächlich dahinschlenderte oder im Höchsttempo rannte. Ein Mittelding schien es nicht zu geben.
Die Sonne hatte sich inzwischen in einen dunkelroten Ball verwandelt und war sanft ins Meer eingetaucht, während leuchtendes Abendrot in den Himmel strömte, als würde er von Blut getränkt.
Als Erste waren die Jungen von der Südbrücke auf die Insel zurückgekehrt. Von Weitem sahen wir, dass sich die Mädchen, Timur, Sershan und Janusch am Fuß der Ostbrücke versammelt hatten. Sie bildeten einen Kreis und starrten wortlos auf etwas, das zwischen ihnen auf dem Boden lag.
Meine Beine waren zittrig und schmerzten, die anderen beiden hatten ein höllisches Tempo vorgelegt. Im Schlepptau von Tolik, der sich ziemlich grob durch die anderen hindurchdrängelte, landete ich mitten in dem kleinen Pulk. Auf dem Boden lagen in einer Blutlache Romka und Igor. Der »normale« Igor. Romka hatte eine Stichwunde in der Brust, die von geronnenem Blut umsäumt war. Igor dagegen war von einer so entsetzlichen Kopfwunde entstellt, dass ich es nicht fertigbrachte, richtig hinzusehen. Mir wurde schlecht.
Unvermittelt packte Sershan Timur an den Schultern und schüttelte ihn: »Wo ist Ostap?«, zischte er, womit er den Langen Igor meinte, der mit Nachnamen Ostapenko hieß.
»Er ist von der Brücke gesprungen, verwundet...«, sagte Timur und versuchte vergeblich, sich aus Sershans Umklammerung zu lösen. Mit brechender Stimme fügte er hinzu: »Tödlich verwundet.«
»Wo ist Kostja?«, schrie Sershan, wobei er Timur mit irren Augen anstarrte.
»In der Burg«, antwortete ihm Rita. »Wahrscheinlich ist er auch … Ein Pfeil steckt in seiner Brust, wir haben uns nicht getraut, ihn herauszuziehen.«
»Und warum lebst du noch, Timur?«, fragte Sershan mit drohender Stimme. »Die Feinde sind bis zur Burg gekommen - wieso bist du getürmt?«
»Lass ihn!«, keifte Rita und schubste Sershan zur Seite. »Timur hat sich völlig richtig verhalten. Reg dich ab!«
»Streitet euch nicht«, sagte Ilja leise. »Das bringt jetzt auch nichts mehr.«
10
DER VERRÜCKTE KAPITÄN
Hinter einem kleinen Waldstück am entfernten Ende der Insel begruben wir Romka und Igor. Chris und Maljok, die erst später eingetroffen waren, halfen Sershan und Janusch beim Ausheben der Gräber, die nicht sonderlich tief gerieten, da sich unter der dünnen Sandschicht harter Felsboden befand.
Während ich so dastand, wurde mir mit Schaudern bewusst, dass ich nur durch einen glücklichen Zufall nicht selbst in einem dieser Sandlöcher mein Ende gefunden hatte. Denn ursprünglich war ja ich für die Wache auf der Ostbrücke eingeteilt gewesen.
Die getöteten Jungen kannte ich kaum, weder Romka noch die beiden Igors. Wir hatten einfach zu wenig Zeit gehabt, um uns näher kennenzulernen. Dennoch war ich mir in dem traurigen Moment, da ich vor ihren Gräbern stand, sicher, dass wir Freundschaft geschlossen hätten. Der Lange Igor war in meinem Alter gewesen, die anderen beiden etwas jünger als ich. Alle drei waren sie lebensfrohe Gemüter, die noch am Morgen bester Laune ihre Scherze getrieben hatten.
Es wäre gelogen, wenn ich behauptete, dass ich in jenem Augenblick tiefen Kummer empfunden hätte. Wären Chris, Tolik oder Maljok umgekommen, hätte ich wahrscheinlich um sie getrauert und geweint. Jetzt hingegen fühlte ich eine Anteilnahme, als wäre in meiner Gegenwart jemand Fremdes von einem Auto überfahren
Nachdem die Gräber zugeschaufelt waren, blieben wir noch eine Weile vor ihnen stehen, als wäre es ein Verrat gewesen, die Jungen allein zurückzulassen. Janusch flüsterte stimmlos vor sich hin. Ich vermutete, dass er ein Gebet sprach, denn in Polen gibt es viele gläubige Menschen.
Dann, als wir in die Burg zurückgekehrt waren, erzählte Timur, wie sich alles zugetragen hatte. Die Wachen auf der Ostbrücke hatten von Anfang an das Gefühl gehabt, dass etwas im Busch war. Normalerweise beorderte die Insel Nr. 30 drei bis vier Mann auf die Brücke, an diesem Tag waren sie zu siebt gekommen. Dennoch hatten sie sich bis zum Abend ruhig verhalten und keine Angriffsversuche unternommen. Allem Anschein nach hatten sie das genau so geplant, um unsere Wachposten einzulullen, was ihnen auch gelang. Es war nur noch eine knappe Stunde bis zur Trennung der Brücke, als einer der Jungen von der Nr. 30 sich scheinbar auf den Rückweg zu seiner Burg machte.
Das war allerdings ein Täuschungsmanöver! Er ging nur einige Schritte weit, und unsere Wachen achteten