Fatalerweise hatten die Dreißiger noch einen weiteren Armbrustschützen, dessen Pfeil fast zeitgleich durch die Luft zischte und den anderen Igor in den Kopf traf. Er taumelte zu Boden und verlor das Bewusstsein. Einer der nachsetzenden Angreifer schlug mit dem Schwert auf ihn ein und bezahlte dies mit seinem Leben, denn inzwischen war Romka herbeigestürzt und stieß dem Jungen die Klinge in den Leib. Daraufhin wichen die anderen Angreifer zurück. Romka verfolgte sie, da er in der Hitze des Gefechts nicht mitbekam, dass er allein gegen fünf war. In dem sich anschließenden ungleichen Kampf wurde er in die Brust getroffen. Timur hatte noch versucht, ihm zu Hilfe zu eilen, konnte ihn aber nur noch schwer verletzt aus der Kampfzone zerren.
Die Lage war verzweifelt. Der Lange Igor war verwundet, der zweite Igor bewusstlos, während Romka das Blut in einer pulsierenden Fontäne aus der Wunde schoss. Obgleich Romka bei Bewusstsein war, wurde er doch mit jeder Sekunde schwächer. Nun nahm der Lange Igor sein Schwert in die linke Hand und bedeutete Timur, er solle die Verwundeten zur Burg hinunterbringen. Igor musste auf den Schultern getragen werden, Romka konnte zunächst noch selbst laufen. Doch als schließlich auch dieser zusammenbrach, blieb Timur nichts anderes übrig, als beide über den Marmor zu schleifen.
Dann, als er sich einmal kurz umdrehte, sah er, wie der
Timur war schon fast an der Burg angekommen, als er bemerkte, dass das Große Spiel für Romka unwiderruflich zu Ende war. Kostja kam ihm entgegengelaufen und half ihm dabei, die zwei Jungen in die Burg zu schleppen. Die Mädchen versuchten noch, den röchelnden Igor zu verbinden, aber sie konnten nichts mehr für ihn tun. Inzwischen kamen die Feinde, die die Verfolgung aufgenommen hatten, die Brücke heruntergerannt und griffen erneut an. Timur und Kostja gelang es, sie in Schach zu halten, obwohl sie zu zweit gegen vier kämpften. Als die Angreifer bemerkten, dass die Mädchen von einer anderen Brücke Verstärkung herbeigerufen hatten, flüchteten sie. Einen Pfeil schossen sie hastig noch ab, noch nicht einmal richtig gezielt.
Dennoch traf er Kostja.
Aufgewühlt durch Timurs Bericht, irrte ich planlos durch die Gänge der Burg. Draußen war es rasch dunkel geworden. Durch jede kleinste Mauerritze sickerte Kälte herein und kroch als kühler Luftzug die Wände entlang. Das Grollen der ans Ufer schlagenden Wellen wurde zunehmend lauter und polterte durch die finsteren Korridore.
Als ich an Kostjas Kammer vorbeikam, legte ich mein Ohr an die Tür und horchte. Ich konnte ihn atmen hören: Es war ein gurgelndes Geräusch, als schäumte etwas in seiner Kehle oder an seinen Lippen. Als ich die Tür öffnete,
Nach und nach versammelten sich die meisten von uns im Thronsaal. Dort war es immerhin hell und sogar einigermaßen warm. Das Kaminfeuer prasselte und vertrieb die schlimmste Kälte, wenn seine Kraft auch längst nicht ausreichte, um den riesigen Saal bis in den letzten Winkel aufzuwärmen. An jeder Wand brannte eine Fackel, in deren Licht wir lange Schatten warfen, die unruhig über den kalten Marmorboden geisterten. Wie die Spiegelbilder im Song von Melomans Lieblingsgruppe schienen diese schwarzen, verzerrten Gestalten ein Eigenleben zu entwickeln, als wollten sie sich nicht damit abfinden, nur ein lebloses Abbild zu sein.
Ich war an eines der Fenster getreten und beobachtete eine Weile, wie die Wellen direkt unter mir gegen die Mauer schlugen und die Gischt in tauenden Flocken an der Fensterscheibe herabrann. Der Himmel musste dicht mit Wolken verhangen sein, denn nur ganz selten einmal konnte ich einen Stern aufblitzen sehen. Ich war dankbar, dass ich nicht schon heute zum Treffen mit Inga gehen musste.
Als ein besonders heftiger Windstoß schneidend aufheulte, hörte man irgendwo oben eine Scheibe zu Bruch gehen. Das war nun keine Katastrophe, aber Tolik stieß trotzdem einen heftigen Fluch aus und trat mit voller Wucht gegen die Wand. Dieser Akt plumper Aggression konnte der Wand kaum etwas anhaben, während Tolik, vor Schmerz jaulend, zum Sofa hinüberhinkte. Meloman
»Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt machen sollen«, rief Chris in unser Schweigen hinein. Er saß auf seinem »Kommandeurstuhl« am Kamin und hatte sein Schwert über die Armlehnen gelegt.
»Was wir machen sollen?«, blaffte Sershan. »Wir könnten Timur trösten, seht nur, wie traurig er ist, der Ärmste. Oder wir bedanken uns bei Tolik. Der hat letzte Woche auf der Ostbrücke Wache geschoben und die Dreißiger bis aufs Blut gereizt. Das hat er wirklich gut hingekriegt«, giftete er sarkastisch.
»Halt den Mund!«, zischte Tolik und ging, während er sein Schwert zog, auf Sershan zu.
Mit Entsetzen bemerkte ich, dass die Klinge seines Holzschwerts einen silbrigen Glanz bekam. Sershan wich mit einem Satz zur Wand zurück und zog nun seinerseits die Waffe. Im selben Moment tauchte plötzlich Timur zwischen den beiden auf. Nach ein paar Sekunden lagen Sershan und Tolik, sich vor Schmerzen windend, hilflos am Boden, während Timur in der Pose eines Karatekämpfers - eine Hand am Gürtel, die andere vor dem Gesicht - dastand, als warte er auf eine Fortsetzung des Kampfes.
»So, der Aufruhr ist beendet. Danke, Timur«, sagte Chris gelassen und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Ich wiederhole es noch mal, extra für Sershan: Keiner von uns trägt die Schuld an dem, was geschehen ist. Im Kampf läuft eben nicht immer alles nach Plan. Im Übrigen … ach, lassen wir das. Am besten, du gehst morgen auf die Ostbrücke, Sershan, da kannst du deinen Frust ablassen.«
Sershan und Tolik verkrochen sich kleinlaut in entgegengesetzte
»Wir haben heute vier Kämpfer verloren«, konstatierte Chris.
»Drei!«, widersprach Tolik heftig. »Kostja ist doch noch am Leben - oder hast du ihn schon abgeschrieben?«
»Natürlich nicht, aber er steht uns als Kämpfer vorerst nicht mehr zur Verfügung. Wir haben drei Freunde und vier Kämpfer verloren. Die Lage ist äußerst bedenklich. Noch so ein Gemetzel, dann müssen wir uns in der Burg verbarrikadieren.«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, entgegnete Timur entrüstet. »So weit dürfen wir es nicht kommen lassen!«
Ein Raunen ging durch den Saal. Sich in der Burg zu verbarrikadieren und den Feinden die Brücken und die Insel kampflos zu überlassen, galt unter den Teilnehmern des Großen Spiels als die schlimmste Schmach, die man sich einhandeln konnte. Selbst Meloman streifte aufgebracht seinen Kopfhörer ab und schaltete sich in die Diskussion ein. Die Frage war, wie wir die wenigen verbliebenen Kämpfer am besten auf die Brücken verteilen konnten. Schweigend lauschte ich dem Gespräch, ohne mich einzumischen.
»Der kritischste Punkt ist die Ostbrücke«, sagte Chris schließlich. »Es ist gut möglich, dass sie uns dort morgen erneut angreifen. Und selbst wenn sie das nicht tun, wir haben noch eine Rechnung mit denen offen. Morgen werden Timur, Tolik und ich dort Wache halten.«
»Das reicht nicht«, warf Meloman erhitzt ein.
»Weiß ich, aber wir haben keine andere Wahl«, entgegnete Chris. »Du bewachst mit Maljok und Janusch die Südbrücke.«
»Also gut«, beugte sich Meloman. »Auf Maljok kann man sich verlassen.«
»Ab sofort gibt’s hier keine kleinen Jungen mehr, alle sind erwachsen, verstanden, Maljok?«, sagte Chris zu unserem Jüngsten gewandt.
Maljok, der den ganzen Abend noch kein Wort gesagt hatte, nickte abwesend.
»Die Westbrücke übernehmen Dima und Sershan.« Chris teilte mich für die am wenigsten gefährliche Brücke ein.
»Und was wird aus mir?«, wisperte Ilja beleidigt. »Habt ihr mich vergessen?«
»Du hältst dich auf der Insel bereit und wirst dann auf die Brücke abberufen, auf der es am ärgsten brennt«, beschwichtigte ihn Chris.
Er war wirklich der geborene Kommandeur. Ilja hatte das Gefühl, mit der wichtigsten Aufgabe überhaupt betraut worden zu sein, dabei bestanden Sinn und Zweck dieser Maßnahme einzig darin, ihn nicht in Gefahr zu bringen.