»Bei euch hat heute ein kleiner Junge mitgekämpft …«, hatte Inga gesagt. Augenscheinlich hatte sie mit ihrem Verdacht den Nagel auf den Kopf getroffen. Sei mir nicht böse, Inga, aber heute Nacht kann ich nicht zu unserem Treffen kommen … Zehn Tage Beschattung: Also musste ich mich zehn Tage lang mucksmäuschenstill verhalten. Unsere einzige Chance war, die Feinde zu überlisten, andernfalls würden wir nie wieder nach Hause kommen.
Zweiter Teil
Das BündniS
1
DIE FLUCHT
Ich stand auf dem Wehrgang am Fuß der Ostbrücke. Die Sonne war bereits im Zenit und brannte mir stechend auf die Schultern. Seit einer Woche war ich nun auf der Insel und hatte es in dieser Zeit geschafft, mir einen katastrophalen Sonnenbrand einzuhandeln, mich einmal vollständig zu häuten und erneut Farbe anzunehmen.
Das Meer war ungewohnt glatt. Die vergangene Woche über hatte ständig ein mehr oder weniger heftiger Wind geblasen. Mal trieben graue Wolken über den Himmel, mal sengte wieder die Sonne herab, der Wind jedoch legte sich für keine Minute und nervte bisweilen mit seinem monotonen Geheule. Mit der Pünktlichkeit eines Schweizer Uhrwerks setzte immer bei Einbruch der Dunkelheit Regen ein, und der Wind wuchs sich zu einem tobenden Sturm aus. Bei Anbruch des nächsten Tages waren Sturm und Regen wieder vorbei.
Heute jedoch hatte sich der Wind einen freien Tag genommen. Schlaff wie ein nasser Lappen hing die rot-weiße Inselflagge von ihrem Mast auf dem Wachturm herab. Die rosafarbenen Burggemäuer wirkten lange nicht so eckig und kantig wie sonst, ja es sah aus, als hätten sie in der Sonne begonnen zu schmelzen. Die Ringmauer, von der die Burg schützend umfasst wurde, erinnerte an eine gigantische Marmorkrone, die vor ewigen Zeiten einmal auf die Insel gefallen war. Unten am Strand sah ich Tanja sitzen, die gelangweilt mit einem Schneebesen
Prüfend sah ich zum Wachturm hinüber, wo sich nichts rührte. Hätte dort einer der Jungen Wache geschoben, wäre ich unverzüglich hinaufgestiegen, um nachzusehen, ob er nicht eingenickt war. Heute war jedoch Rita dort oben eingeteilt, da brauchte ich mir keine Sorgen zu machen.
In Lethargie versunken, trottete ich auf dem Wehrgang zur Südbrücke hinüber und dann weiter zur Westbrücke. Die marmornen Brückenbögen sahen zwar völlig gleich aus, tatsächlich aber war die Südbrücke etwas schmaler als die Westbrücke, während auf der Ostbrücke die Balustrade etwas niedriger war als bei den anderen beiden. Vor vielen Jahren hatte das jemand aus Langeweile ausgemessen und die Maße in die Mauern geritzt. Jeder suchte sich eben eine Beschäftigung auf den Inseln, um an den Abenden oder dienstfreien Tagen irgendwie die Zeit totzuschlagen.
Schon den dritten Tag in Folge war ich nicht mehr für den Wachdienst auf den Brücken eingeteilt worden. Chris hatte das so entschieden, ohne mir den Grund dafür zu erklären. Eigentlich hatte ich auch kein Problem damit, denn einerseits befürchtete ich, auf die Südbrücke beordert zu werden und dort womöglich auf Inga zu treffen, andererseits gab es zurzeit ohnehin keine ernsthaften Gefechte, nicht einmal mit den Dreißigern.
Als Timur, Tolik und Chris am Tag nach dem Tod unserer drei Gefährten den Scheitelpunkt der Ostbrücke erreichten, waren sie dort von einer halben Armee in Empfang
Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich kurz zur Sonne hinauf. Früher war ich der Meinung gewesen, dass es kinderleicht sei, die Uhrzeit nach dem Sonnenstand zu bestimmen, und dass man dies nicht einmal lernen müsse: Ein kurzer Blick gen Himmel - und schon weiß man, wie spät es ist. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass man sich leicht um zwei oder drei Stunden verschätzen konnte, wenn man keine Übung darin hatte. Die Jungen, die schon lange hier lebten, konnten die Zeit mit traumwandlerischer Sicherheit am Sonnenstand ablesen. Die Einzigen auf der Insel, die eine funktionierende Uhr besaßen, waren Chris und Rita, man musste sich also, ob man wollte oder nicht, irgendwie behelfen. Auch Tolik war mit einer Uhr auf die Insel gekommen, sie war aber stehen geblieben, nachdem er sie einmal in der Küche bei einer scherzhaften Rangelei mit Lera versehentlich im Abspülwasser versenkt hatte. Bei Kostjas elektronischer
Wenn ich nicht völlig danebenlag, war es ungefähr elf Uhr, also noch ziemlich lange hin bis zum Mittagessen. Obwohl mein Tag nicht gerade anstrengend verlief, hatte ich Appetit auf eine Kleinigkeit bekommen, keinen richtigen Hunger, einfach nur Lust, auf etwas herumzukauen. So wie zu Hause, wenn man sich eine Handvoll Bonbons aus der Tüte krallt oder sich Kekse in die Taschen stopft, bevor man eilends das Haus verlässt. Nachdenklich sah ich zum Wachturm hinüber: Dort war Rita. Tanja war am Strand unten und schlug hoffentlich Sahne. Lera und Olja waren also allein in der Küche, wie ich messerscharf schlussfolgerte. Und von den beiden konnte man wirklich alles haben!
In aller Ruhe marschierte ich auf eine der Türen zu, die vom Wehrgang in die Burg hineinführten, als von der Mauer plötzlich ein violetter Lichtschein reflektiert wurde. Mich umwendend, hatte ich schon eine gewisse Vorahnung, um welche Art von Licht es sich dabei handeln musste, denn in den letzten Tagen war kein Abend vergangen, an dem nicht ausführlich darüber gesprochen worden wäre.
Drüben am Seeufer, wo sich das sauber aufgeschüttete Hügelchen aus weißem Sand befand, tat sich etwas. Ungefähr drei Meter über dem Boden waberte ein violetter Schein, der mal mehr und mal weniger stark leuchtete. Man konnte diese Erscheinung am ehesten mit einer lumineszierenden Wolke oder mit einem Nebelfetzen vergleichen, der von innen durch eine grelle Lampe ausgeleuchtet wurde. Und wenn man ganz genau hinsah,
Einen Freudenschrei ausstoßend, rannte ich durch die Tür in den oberen Gang, rutschte halsbrecherisch auf dem Geländer die Wendeltreppe hinunter und stürmte schließlich durch das offen stehende Burgtor hinaus. Dabei hätte ich fast Tanja umgerannt, die die leuchtende Wolke ebenfalls bemerkt und sich vom Strand her zum Seeufer aufgemacht hatte.
Als wir am Fuß des Landehügels ankamen, war der violette Schein bereits verloschen. An seiner Stelle hing nun völlig bewegungslos, wie in einen Glasblock gegossen, ein etwa zwölfjähriger Junge waagerecht in der Luft. Bekleidet war er mit einem grellorangen T-Shirt und einer beigen Hose, um seine Schulter hing eine Sporttasche. Dieser Anblick hätte mich nun nicht weiter verwundert, da ich durchaus mit einem ähnlichen Bild gerechnet hatte. Seine Pose wies jedoch einige Details auf, die mich aufs Äußerste erstaunten: Seine Haare standen in einem nicht vorhandenen Luftstrom steil nach oben ab, sein T-Shirt war am Rücken wie ein Luftkissen aufgebauscht, und seine Tasche schwebte am Riemen einen halben Meter über ihm, als flöge sie ihm hinterher. Das Ganze sah also so aus, als hätte man den Jungen im freien Fall fotografiert und das Foto dann drei Meter über dem Boden in die Luft gehängt.
Ein paar Sekunden später kam Bewegung in das bizarre Stillleben: Der Junge purzelte durch die Luft und fiel mit einem dumpfen Platsch auf den Sand. Tanja und ich hörten ihn kurz aufquieken und rannten dann den Sandhügel hinauf zum Landeplatz.
Als wir bei ihm ankamen, hatte der Junge sich schon
»Hallo«, begrüßte ich ihn lächelnd. »Du brauchst keine Angst zu haben!«
Der Neue sprang auf, griff nach seiner Tasche und begann hastig an deren widerspenstigem Reißverschluss zu zerren.
»Was ist los?«, fragte Tanja, die auf ihn zuging und ihn vorsichtig an der Schulter fasste.
Der Junge zuckte zusammen. Dann wisperte er kläglich und mit fragender Intonation: »Where am I?«
»Huch, du bist ja gar kein Russe«, sagte ich völlig perplex. Seine Frage hatte ich verstanden, war mir aber nicht sicher, ob ich auch auf Englisch antworten könnte.