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Und dann wurde es dunkel.

2

DIE BURG DES SCHARLACHROTEN SCHILDES

Die Dunkelheit schloss mich von allen Seiten ein. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht, versuchte, mich zu bewegen - vergeblich. Um mich herum waren nur Dunkelheit und Kälte, sonst nichts. Mich überkam ein völlig taubes Gefühl, als wäre ich selbst nicht mehr da.

Dann explodierte die Dunkelheit. Es war wirklich eine richtige Explosion mit einem lauten Knall, ich wurde herumgewirbelt und stellte erleichtert fest, dass ich meinen Körper wieder spüren konnte. Im selben Augenblick jedoch gewahrte ich mit Schrecken, dass ich keinen Boden unter den Füßen hatte.

Ich schwebte in der Luft, etwa zehn Meter über dem Boden des P... Nein, nicht des Parks. Der Park war nicht mehr da! Unter mir befand sich eine etwa zwei Kilometer breite, rosafarbene Insel mit einem kleinen, runden See in der Mitte. An ihren sandigen Ufern standen einige fremdartig anmutende Bäume mit kleinen, dunkelgrünen Blättern. Nichts regte sich. Rund um die Insel erstreckte sich bis zum Horizont tiefblau und erhaben das Meer, gischtweiße Wellenkämme hingen wie erstarrt in der Luft.

Auf einmal geriet alles in Bewegung: Die Wellen machten einen Ruck und rauschten über den Sand. Plötzlich war es auch nicht mehr kalt. Stattdessen umströmte mich selbst für den Sommer ungewöhnlich warme Luft, und salzige, ja fast etwas zu salzige Wasserspritzer klatschten mir ins Gesicht.

Ich befand mich im freien Fall. Im heißen Luftstrom drehte es mich zur Seite und in dieser seitlichen Lage, mit gerade noch rechtzeitig ausgestreckten Armen, schlug ich auf dem Ufer der Insel Nr. 36 auf.

Die Schmerzen waren so heftig, dass mir die Tränen kamen, noch bevor ich wieder völlig bei Bewusstsein war.

Dann berührte etwas Kühles meine Stirn, und ich hörte eine leise Stimme sagen: »Wenn er stirbt, ist es deine Schuld, Chris. Ich hatte gestern noch gesagt, dass der Landeplatz zu klein ist.«

Es war eine zarte, etwas ärgerlich klingende Mädchenstimme. Im ersten Moment verstand ich nicht, von wem sie sprach, doch dann wurde mir schlagartig klar, wen das Mädchen gemeint hatte: Ich sollte sterben? Schwachsinn! All meine Kraft zusammennehmend, öffnete ich die Augen.

Unter mir war Sand, weicher, heißer Sand. Über mir spannte sich ein azurblauer, wolkenloser Himmel, in dessen Wölbung wie gemalt eine gelbe Sonnenscheibe hing. In dieses Bild ragten die über mich gebeugten Körper von Jungen und Mädchen, die ich nicht kannte. Eines der Mädchen hielt seine feuchte Hand an meine Stirn, schaute mir in die Augen und strahlte über das ganze Gesicht.

»Es geht dir schon besser, nicht wahr?«, hauchte sie.

»Jaja«, erwiderte ich reflexartig.

Das alles war zu viel für mich. Zuerst so ein langweiliger Tag, der sich zäh wie Kaugummi hinzieht, dann fällst du plötzlich vom Himmel und schlägst auf irgendeiner Insel auf … Mich packte die blanke Angst: Wie um Himmels willen war ich hierhergekommen? Schließlich

Ich hätte wirklich allen Grund gehabt, in Panik auszubrechen. Doch als ich die Jungen und Mädchen um mich herum misstrauisch musterte, bemerkte ich, dass sie mich alle unverhohlen angrinsten. Nicht unbedingt höhnisch, aber trotzdem … Es war ein wissendes Grinsen! Sie wussten, was hier gespielt wird! Also würde ich es auch erfahren. Meine Angst war im Nu verflogen. Ich stand auf und sah mich um, ohne die anderen weiter zu beachten.

Die Insel war wirklich klein. Und dann noch der See in der Mitte! Das Ganze sah aus wie eine Art rosa Kringel. Ein höchstens achthundert Meter breiter Ring aus feinem Sand. An manchen Stellen ragten spitze Steine und knorrige Korallenbäumchen aus dem Sand. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich auf einem dieser Gebilde gelandet wäre. Der Gedanke daran jagte mir einen Schauer über den Rücken - einen Schauer der angenehmen Art, wie er sich einstellt, wenn man knapp am Unglück vorbeigeschrammt ist.

An einem Ende der Insel erhob sich ein flacher Sandhügel, der mit ein paar kargen Büschen und welkem Gras bewachsen war. Ich drehte mich um, um den Rest zu inspizieren, und traute meinen Augen nicht: Etwa vierzig Meter von mir entfernt erhob sich eine Burg aus dem Sand. Eine kleine, hübsche Burg, die sich dicht ans Ufer schmiegte und über das Wasser ragte. Sie hatte alles, was zu einer richtigen Burg gehört: hohe Mauern aus rosa Marmor, einen zehn bis fünfzehn Meter hohen Wachturm, schmale Schießscharten und ein graues Eisentor.

»Was glotzt ihr mich so an?«, fuhr ich die umstehenden Jungen und Mädchen barsch an. »Bin ich hier im Zoo, oder was?«

Sie zeigten sich von meiner Grobheit ungerührt.

Der Älteste von ihnen, dem Äußeren nach zu schließen etwa siebzehn Jahre alt, also drei Jahre älter als ich, sagte: »Respekt, du hast ja überhaupt keine Angst«, und begrüßte mich mit Handschlag. »Ich heiße Chris.«

»Dima«, brummte ich.

Alle um mich herum waren sonnengegerbt und braun gebrannt, was angesichts ihrer spärlichen Bekleidung und der gnadenlos vom Himmel sengenden Sonne nicht weiter verwunderlich war. Die Jungen trugen einfach Badehosen oder unverkennbar selbst abgeschnittene kurze Hosen mit ausgefranstem Saum. Nur zwei von ihnen hatten noch schlabberige T-Shirts an. Die jüngeren Mädchen trugen auch Shorts und Hemdchen, nur die Älteste, deren Stimme ich als Erstes vernommen hatte,

Der Kleinste von allen, etwa elf Jahre alt, trug eine orangefarbene Badehose und ein lustiges weißes Sonnenkäppi.

»Unsere Burg ist die Burg des Scharlachroten Schildes! Es ist die beste Burg auf den Inseln!«, rief er vorlaut.

Dann wich er ein paar Schritte zurück, als hätte er Angst vor der eigenen Courage bekommen. Alle lachten. Ich musste auch ein wenig lachen, denn so viel war klar: Mir war nichts passiert, und die Jungen und Mädchen hier schienen ganz in Ordnung zu sein.

3

DIE SPIELREGELN

Die Burg war nicht groß, aber mit dem Nötigsten ausgestattet. Zu ebener Erde befanden sich der Thronsaal, ferner ein langer, schmaler Raum, der Turniersaal genannt wurde, die Küche, in der die Mädchen das Essen zubereiteten, sowie einige Lagerräume. Im oberen Stockwerk waren die Schlafräume untergebracht. Die Jungen wohnten in sechs kleinen Kammern, jeweils zu zweit in einer. In zwei weiteren großen Kammern wohnten die Mädchen, in der einen die jüngeren drei, Tanja, Lera und Olja, in der anderen das älteste Mädchen Rita. Insgesamt lebten, mich nicht mitgerechnet, sechzehn Jungen und Mädchen auf der Insel. Der Älteste war Chris, der Jüngste der kleine Junge mit dem Käppi. Alle behandelten ihn wie einen kleinen Bruder und nannten ihn etwas herablassend Maljok, was so viel bedeutet wie »der Kleine«.

Nach meiner unsanften Landung wurde ich vom »Empfangskommando« in den Thronsaal, den größten Raum der Burg, geführt. Einen Thron gab es hier nicht und auch nur wenige Stühle. Mitten im Saal stand ein riesiger runder Tisch, an dem sichtlich der Zahn der Zeit genagt hatte: Die stark nachgedunkelte, hölzerne Tischplatte war von tiefen Schrammen und Scharten übersät. Um den Tisch herum standen dicht an dicht etliche umgedrehte Holzfässer, auf denen sich nun alle niederließen. Eine derartige Einrichtung hätte man eher in der Kajüte eines alten Segelschiffs erwartet als im Thronsaal einer Ritterburg.

In zwei Wänden des Saals waren breite, verglaste und innen mit einem dicken Eisengitter gesicherte Fenster eingelassen, wodurch der Raum sehr hell wirkte. An einer der beiden fensterlosen Wände hing ein runder, scharlachroter Schild, der mindestens zwei Meter Durchmesser hatte. Man sah auf den ersten Blick, dass er nicht als Waffe, sondern nur als Emblem diente.

Mir wurde einer der wenigen richtigen Stühle zugewiesen. Kaum hatte ich Platz genommen, begannen die versammelten Bewohner der Insel Nr. 36, aufgeregt auf mich einzureden und mir tausend Sachen zu erklären. Da alle durcheinanderschrien und sich ständig gegenseitig unterbrachen, verstand ich kein Wort von dem, was sie mir zu sagen versuchten. Chris beendete das fruchtlose Chaos, indem er alle zum Schweigen brachte und selbst zu erzählen begann. Ich hörte ihm zu und wusste nicht, ob ich über seine Worte lachen oder weinen sollte. Letzteres wäre wohl eher angebracht gewesen.