Zwei weitere Jungen der »feindlichen« Insel setzten den Kampf noch fort. Sie sahen ziemlich übel zugerichtet aus, sodass am Ausgang des Gefechts kaum ein Zweifel bestand. Einige Meter dahinter befand sich ein vierter Verteidiger der Insel Nr. 24. Er war auf die Knie gesunken und hielt sich mit der Hand die Schulter, aus der das Blut in Strömen floss. Er musste schnellstmöglich verbunden werden, denn selbst war er dazu nicht mehr in der Lage.
Chris und Timur schienen keinen Kratzer abbekommen zu haben. Neben ihnen stand, lässig auf sein Schwert gestützt, Tolik und verfolgte gelangweilt den ungleichen Kampf. Als Chris uns bemerkte, gab er Timur einen Klaps auf die Schulter und verließ die Kampfzone in unsere Richtung. Timur, der bislang wie alle anderen auch mit einem Schwert gefochten hatte, hielt einen Moment lang inne, zog sein zweites Schwert hinter dem Rücken hervor und wetzte die Schneiden beider Waffen aneinander. In der entstandenen Stille klang das Rasseln des Stahls besonders schauderhaft. Von der »gebrauchten« Klinge löste sich ein schwerer roter Tropfen und fiel klatschend auf den Marmorboden.
»Nein …«, wimmerte einer seiner Gegner schlotternd.
Timur machte einen Satz nach vorn und schwang gleichzeitig beide Schwerter, deren Konturen verschwammen, während sie wie Propellerflügel durch die Luft wirbelten. Es folgte ein kurzes Klirren und Scheppern, und die Waffen der beiden Vierundzwanziger segelten in hohem Bogen über die Brückenbalustrade. Mit einem dumpfen Schmatzen schluckte sie Sekunden später das Meer. Timur hatte sie ihnen mit wenigen kräftigen Hieben einfach aus der Hand geschlagen. Wehrlos standen ihm die Gegner nun gegenüber, starrten ihn mit kalkweißen Gesichtern an. Ihr schwer verwundeter Gefährte versuchte, die Zähne zusammenbeißend, aufzustehen, doch schon nach wenigen Sekunden knickten seine Beine ein, und er sank erneut auf die Knie. Er war etwas älter als die anderen beiden, etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, und am ganzen Körper von Schnittwunden übersät. Tränen rannen über sein Gesicht, obwohl er krampfhaft versuchte, sie zurückzuhalten. Schließlich resignierte er und kippte vornüber auf den Boden.
Dies war der Moment für Ingas Auftritt, die völlig abwesend und von Zeit zu Zeit leise schluchzend neben mir stand. Nachdem ich ihr einen sanften Schubs in den Rücken versetzt hatte, kam sie wieder zu sich und schritt auf ihre ehemaligen Gefährten von der Nr. 24 zu.
»Hallo, Jungs!«, rief sie ihnen zu, als wenn nichts gewesen wäre.
Für mein Gefühl klang es, als ob sie sich über die beiden lustig machen wollte. Aber zu meiner Überraschung reagierten die Jungen keineswegs verärgert.
»Hallo, Inga«, erwiderte einer der beiden von Timur entwaffneten Jungen kraftlos, doch ohne jeden Gram.
»Was steht ihr hier dumm herum?«, herrschte Inga sie plötzlich an. »Verbindet gefälligst Mischka!«
Völlig verdutzt stürzten die beiden zu ihrem Gefährten. Doch Inga schubste sie gleich darauf rüde beiseite und kümmerte sich selbst um den Verwundeten, während ich zu dem über der Balustrade liegenden Jungen hinüberging. Als ich ihn vorsichtig an der Schulter fasste, rutschte sein lebloser Körper, als hätte er nur auf diese Berührung gewartet, wie in Zeitlupe auf der Innenseite die Balustrade hinab. Während sein Rumpf an deren Fuß zu liegen kam, klappte einer seiner Arme durch einen Geländerzwischenraum und begann makaber in Richtung Meer zu winken.
Mir wurde schlecht. War das wirklich nötig gewesen? Musste der Weg zum Frieden, zum Sieg für alle, unbedingt von Blut getränkt sein? Vom Blut dieses unglückseligen Jungen, dessen Unheil einzig darin bestand, dass er sich ganz genau an die Regeln des Großen Spiels gehalten hatte? Es musste doch auch einen anderen Weg geben. Oder waren wir einfach nicht willens, einen solchen Weg zu suchen? Hatten wir es verlernt, uns auf schmalen Pfaden zu bewegen? Die breiten, ausgetretenen Wege jedenfalls waren überall von Blut besudelt.
Timur hatte sich in der Zwischenzeit darangemacht, den »Streber« zu verbinden, während Chris sich um den dritten Jungen kümmerte.
»Nehmt ihr uns jetzt gefangen?«, fragte die Stupsnase mit piepsiger Stimme.
»Nein, wir lassen euch laufen«, erwiderte Chris großmütig und fügte, mit dem Kopf auf den Toten deutend, ernst hinzu: »Das wollte ich nicht. Aber ihr habt ja gesehen: Ich hatte keine Wahl. Nehmt ihn mit und begrabt ihn auf eurer Insel.«
Verblüfft zog der Junge den verbundenen Arm an seine Brust. »Ich fürchte nur, wir werden’s nicht schaffen, ihn runterzutragen«, sagte er und deutete auf seinen Verband. »Werft ihn bitte nicht die Brücke hinunter, wir holen ihn später ab.«
Chris warf mir einen auffordernden Blick zu. Kaum merklich nickte ich.
»Kein Problem«, sagte Chris mit einem freundlichen Lächeln zu dem Jungen. »Dima und Inga werden euch helfen.«
Es war das erste Mal, dass ich eine Brücke auf der feindlichen Seite hinunterging. Zugegeben, es war ein mulmiges Gefühl, denn jeder Schritt entfernte uns weiter von der Burg des Scharlachroten Schildes. Noch hätten wir die Möglichkeit gehabt, umzukehren. Ich hätte lediglich den auf meinen Schultern hängenden Körper ablegen, Inga an der Hand fassen und kehrtmachen müssen. Die drei Jungen von der Insel Nr. 24 hätten in ihrem jämmerlichen Zustand kaum versucht, uns daran zu hindern. Doch Inga und ich waren gleichermaßen entschlossen, unseren Plan durchzuziehen.
Aus dem im Rhythmus meiner Schritte baumelnden Körper des toten Jungen liefen mir warme Rinnsale den Rücken hinunter. Erstaunlicherweise empfand ich weder Grauen noch Ekel. Meine Welt war aus den Fugen geraten, alle Maßstäbe waren verschoben. Ich war definitiv
»Alik, was ist mit Genka?«, fragte Inga hinter meinem Rücken.
Ich hielt den Atem an.
»Er ist gestorben«, antwortete die Stupsnase ohne den geringsten Anflug von Bedauern in der Stimme.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Inga die Farbe aus dem Gesicht wich und ihre Lippen leicht zu zittern begannen.
»Mach dir keine Gedanken, Inga«, setzte Alik hinzu. »Es war nicht nur dein Schwertstich, er hat in der Burg noch ein paar Dolche abgekriegt. Die hatte er sich verdient.«
Ich war ziemlich geschockt. Der Kerl musste ja ein wahres Schreckensregiment auf seiner Insel geführt haben, wenn seine Leute ihn bei der ersten sich bietenden Möglichkeit um die Ecke gebracht hatten, obwohl er wehrlos und verwundet war.
Wir näherten uns der feindlichen Burg, und plötzlich kamen uns zwei Jungen entgegengelaufen, die kampfbereit die Schwerter gezückt hatten. Als sie Inga, mich und den humpelnden Mischka erkannten, gefroren ihre Gesichter, und sie blieben vor uns stehen.
»Ich muss mit dem Anführer eurer Insel sprechen«, sagte ich ruhig. »Wir sind Parlamentäre.«
Verdutzte Blicke tauschend, ließen die Jungen die Waffen sinken und sahen mich ungläubig an.
Einer der beiden war etwa dreizehn Jahre alt, er trat vor, schlitzte grimmig die Augen und hielt mir drohend
Inga stellte sich neben mich und sagte: »Achmet, das ist Dima. Wir sind gekommen, um …«
»Du hast hier auch nichts mehr verloren«, unterbrach sie Achmet schroff.
Der Kerl begann mir auf die Nerven zu gehen. Mit einem Ruck lud ich meine Last auf dem Boden ab und baute mich vor ihm auf. »Wir sind Parlamentäre. Inga hat nicht vor, auf eure Insel zurückzukehren, sie möchte nur bei den Verhandlungen helfen.«
»Was für Verhandlungen denn?«, fragte Achmet misstrauisch.
In der Zwischenzeit waren noch zwei Mädchen aus der Burg getreten, eine kleine, etwas pummelige Blonde, die verschreckt aussah, und eine große, ältere Brünette mit einer breitschulterigen, überhaupt nicht mädchenhaften Figur und einem strengen Gesicht, in dem die Augen wachsam blitzten.