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Da zogen die Feinde sich zurück. Ich glaube nicht, dass das unbedingt mein Verdienst war. Es kam einfach alles zusammen: Das lange, vergebliche Anrennen, das plötzliche Auftauchen von Maljok und mir, der schreckliche Tod ihres Gefährten und am Ende vielleicht auch meine ungeschickten, jedoch von Angst und Verzweiflung befeuerten Schläge. Manchmal ergibt es sich eben so, dass derjenige, der zu spät zur Schlacht erscheint, die Lorbeeren einheimst.

Als wir den geflüchteten Feinden mehr der Form halber nachsetzten, überholte ich Tolik, Janusch und Chris und lief, von unserem Erfolg beflügelt, ein Stück vorneweg. Plötzlich erblickte ich von Weitem einen feindlichen Kämpfer, der zurückgeblieben war.

Als Erstes stach mir in die Augen, dass er sehr hellhäutig

Mit am Gürtel baumelndem Schwert, den Blick fest auf mich gerichtet, stand sie einfach nur da und machte keinerlei Anstalten, vor mir wegzulaufen. Ihre Kleidung fügte sich in das auf den Inseln übliche Bild: Die Jeans war kurz unterhalb der Knie abgeschnitten, die Bluse hatte sie über dem Bauch verknotet, und die Haare wurden mit einem breiten schwarzen Stirnband zurückgehalten. Dennoch kam sie mir irgendwie bekannt vor - bekannt aus meinem alten, irdischen Leben, dem ich ja erst gestern mit dem Klacken eines Fotoapparats so jäh entrissen worden war.

Das Mädchen verharrte reglos und blickte mir in die Augen. Jetzt erkannte ich sie.

»Inga«, hauchte ich mit versagender Stimme.

Das war noch unglaublicher als alles, was bis jetzt passiert war, noch viel verrückter als die Außerirdischen und das Große Spiel. Das konnte einfach nicht wahr sein! Erst vor zwei Tagen war ich Inga begegnet. Sicher, man kann sich in wenigen Tagen sehr verändern, kann ein wenig Farbe annehmen, wenn nötig auch seine Kleidung durchscheuern und irgendetwas an der Frisur verändern, sodass die Haare länger scheinen. Aber die Augen und der Gesichtsausdruck - die verändern sich nicht so schnell!

»Pst«, flüsterte Inga verschwörerisch. »Komm heute Nacht hierher auf die Brücke. Und erzähle niemandem etwas von mir.« Dann wandte sie sich um und rannte ihren Gefährten hinterher.

Maljoks Verwundung war nicht allzu tragisch. Er behauptete, keine Schmerzen zu haben, obwohl niemandem entgehen konnte, dass ihm die Tränen in den Augen standen. Chris und Janusch blieben auf der Brücke, während Tolik und ich Maljok zur Burg zurückbrachten.

Unterwegs erzählte mir Tolik von Janusch. Der polnische Junge war erst seit etwa einem Monat auf der Insel. Alle bemühten sich, ihm Russisch beizubringen, bislang jedoch mit eher bescheidenem Erfolg. Prustend vor Lachen, gab Tolik einige urkomische Wörter zum Besten, die Janusch beim Versuch, Russisch zu sprechen, völlig verunstaltet hatte. Ich fand Toliks Benehmen, vorsichtig ausgedrückt, unsensibel. Eben noch hatten wir mit angesehen, wie ein Junge von der Nachbarinsel umgekommen war, hatten einen Kampf auf Leben und Tod geführt, und er lachte schon wieder. Doch selbst Maljok kicherte, obwohl er dabei vor Schmerz zusammenzuckte. Mir gingen die Bilder von dem ins Meer stürzenden Jungen nicht aus dem Kopf, ebenso wenig wie das von Inga, wie sie so reglos vor mir stand.

An diesem Abend war die Rückkehr der Brückenwachen früher als üblich zu erwarten, denn am Himmel zogen düstere Regenwolken auf. Rasch wurde es dunkel, und ein kalter Wind pfiff um die Gemäuer unserer Burg.

Den ganzen Nachmittag lang war Tolik mit mir umhergestreift und hatte mir erklärt, was für den Alltag auf der Burg von Bedeutung war, und allmählich konnte ich mich einigermaßen orientieren: Oben befanden sich ausschließlich Schlafkammern, unten die Gemeinschaftsräume, der Thronsaal, die Küche, Lagerräume und der Turniersaal. Letzterer erinnerte mit seiner hohen Decke und seinen vergitterten Fenstern an eine Sporthalle. Darüber hinaus gab es noch eine Vielzahl schmaler Korridore, einen Keller und einige leer stehende Kammern im Wachturm. Von außen wirkte die Burg erheblich größer, vermutlich nahmen die dicken Steinmauern einen beträchtlichen Teil des Raumes ein.

Die Mädchen hatten Tolik einen dicken Verband verpasst und zuvor eine zähflüssige weiße Salbe auf seine Wunden aufgetragen. Maljok hatten sie der gleichen Prozedur unterzogen und ihn danach unverzüglich ins Bett abkommandiert. Keines der Mädchen unternahm auch nur einen Versuch, Tolik ebenfalls für eine solche Maßnahme zu gewinnen. Dieser behauptete, dass am nächsten Morgen nur noch ein paar kleine, blasse Narben von den Wunden übrig sein würden. Ohne seinem sich rasch rot verfärbenden Verband Beachtung zu schenken, hatte er mich durch die ganze Burg geschleppt, bis wir am Wehrgang wieder ins Freie gelangt waren.

»Soll ich dir beibringen, wie man eine Brücke abhört?«, fragte Tolik und ließ den Blick über die schmale Rampe schweifen, die sich direkt vor uns über das Meer erhob.

Ich nickte und legte die Stirn in Falten, da ich keinen blassen Schimmer hatte, was Tolik damit meinte. Der verzichtete auf weitere theoretische Erläuterungen, warf sich direkt am Fuß der Brücke der Länge nach hin und presste das Ohr gegen den Marmor.

»Leg dich hin und horche!«, befahl er.

Gehorsam tat ich es ihm gleich und hörte zunächst einmal gar nichts. Doch schon im nächsten Augenblick gewahrte ich, wie von ferne, ein dumpfes, grollendes Knarren. Das waren die auseinanderdriftenden Brückenhälften, die in der Dämmerung allmählich auskühlten. Meine Gedärme krampften sich zusammen.

Ein ähnlich beklemmendes Gefühl hatte ich erst einmal zuvor erlebt, und zwar bei einer Klassenfahrt, bei der wir eine Kohlengrube besichtigt hatten. Damals war ich dicht an einen mit einem Gitter abgedeckten Ventilatorenschacht herangetreten, durch den Luft aus einem halben Kilometer Tiefe nach oben gepumpt wurde. Da hörte ich das gruselige Heulen des Luftstroms, der sich durch verschlungene Gänge den Weg aus der Finsternis bahnte. Man spürte die blinde, gleichgültige Kraft und unsichtbare Kälte der mächtigen, stählernen Ventilatorenflügel, die die Luft an die Oberfläche saugten. Es war ein absolutes Gänsehautgefühl, damals, an der Grube.

Und so erging es mir auch in diesem Moment. Das Knarren des sich zusammenziehenden Steins offenbarte eine dumpfe, eiskalte Kraft. Auf dieselbe Weise würde sich die Brücke morgen bei Tagesanbruch wieder zusammenschieben. Als vereinten sich zwei steinerne Hände

»Beeindruckend, nicht?«, fragte Tolik stolz und stand auf.

Ich nickte und rappelte mich ebenfalls hoch. Als ich an der Stelle, wo Tolik eben noch gelegen hatte, eine Blutlache erblickte, bekam ich einen ordentlichen Schrecken.

Tolik bemerkte meinen verstörten Blick, setzte ein breites Grinsen auf und beruhigte mich: »Keine Sorge, Dimka, auf den Inseln stirbt man nicht an seinen Wunden, sondern nur im Kampf. Wenn du willst, mache ich den Verband auf, dann siehst du, dass die Wunde schon am Verheilen ist.«

»Ich glaub’s dir auch so«, erwiderte ich ehrlich. »Lass mal.«

Nach und nach kehrten die Wachen von den Brücken zurück. Von der Südbrücke kamen Chris und Janusch, von der Ostbrücke Timur, Sershan und noch zwei Jungen, an deren Namen ich mich nicht erinnerte. Timur sah besonders martialisch aus. Für die Brückenwache hatte er sich mit zwei Schwertern bewaffnet, die er in speziellen Scheiden gekreuzt am Rücken trug, sodass die Griffe über seine Schultern ragten. Ob er wirklich mit beiden Schwertern gleichzeitig focht, wusste ich nicht, jedenfalls sah er in dieser Montur ziemlich furchteinflößend aus. Auch war er mindestens ein Jahr älter als ich. Sershan dagegen war in meinem Alter, während ihre beiden Kampfgefährten etwas jünger waren. Aus ihren Gesprächen schnappte ich endlich die Namen der beiden auf: Es waren der Lange Igor und Romka.

Die meisten Jungen und Mädchen gerieten im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren auf die Inseln. Maljok, der

Zuletzt kamen die Jungen zurück, die auf der Westbrücke Wache gehalten hatten: noch zwei Igors, Ilja und Kostja. Sie hatten gerade damit begonnen, weitschweifig von ihren Heldentaten im Kampf gegen die Ritter der Insel Nr. 12 zu erzählen, als ein strafender Blick von Chris sie traf und augenblicklich verstummen ließ.