»Tatsächlich?« fragte er begierig.
»Das ist mein voller Ernst. Mit Ausnahme anderer deiner Gedichte natürlich.«
»Natürlich. Glaubst du, es wird ein unsterbliches Werk werden?«
»Schwer zu sagen. Machst du dir darüber Gedanken?«
»In gewisser Weise schon.«
»Warum?«
»Weil es dir gewidmet ist, mein Freund.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Einmal angenommen, es wird ein unsterbliches Werk. Womit zu rechnen ist, da es sich schließlich um einen echten Hurtha handelt. Dann wärst du in der Erinnerung der Leute für alle Zeiten ein verabscheuungswürdiger, ekelhafter Faulpelz.«
»Ich verstehe, was du meinst.«
»Trotzdem bist du mein liebenswerter Freund, und ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, dir das anzutun. Was also soll ich tun?«
»Widme es doch irgendeinem erfundenen Burschen, jemandem, den du dir einfallen läßt.«
»Ein großartiger Vorschlag!« rief Hurtha aus. Er wandte sich an einen der Flüchtlinge. »Entschuldigung. Wie ist dein Name?«
»Gnieus Sorissius aus Brundisium.«
»Vielen Dank.« Hurtha wandte sich wieder mir zu. »Ich widme das Gedicht Gnieus Sorissius aus Brundisium.«
»Was?« rief Gnieus Sorissius.
»Freu dich«, sagte Hurtha. »Du hast gerade Unsterblichkeit erlangt. Jetzt kannst du sterben.«
»Wie bitte?« fragte Gnieus Sorissius aufgeregt. Schließlich trug Hurtha eine große Axt.
»Aber was ist, wenn du dein Gedicht verwirfst, wenn du wie so oft zu dem Schluß kommst, daß es deinen unglaublich hohen Ansprüchen nicht genügt. Oder jemand schlägt dir so heftig auf den Kopf, daß du es einfach vergißt. So etwas geschieht öfter.«
»Ich verstehe, was du meinst«, erwiderte Hurtha ernst. »Dann würde ich dem armen Gnieus seinen Platz in der Geschichte nehmen.«
»Stimmt. Es ist nicht richtig, ihn auf diese Weise so sehr von dir abhängig zu machen. Stell dir nur vor, er hält sich für unsterblich und führt ein leichtsinniges Leben, fürchtet nichts, geht unbekümmert unkluge Wagnisse ein und erleidet dadurch schwerwiegende, unglückliche Niederlagen?«
Hurtha schüttelte den Kopf. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Du würdest dich schrecklich verantwortlich fühlen.«
»Stimmt. Ich bin ein Bursche mit einem empfindlichen Gewissen.«
»Oder sein Leben wäre von Unbehagen geprägt; er weiß nicht, ob du dein Gedicht behalten hast oder nicht, also weiß er auch nicht, ob er nun unsterblich ist oder nicht.«
»Das ist wahr«, stöhnte Hurtha. »Was soll ich nur tun?«
»Dieses Gedicht über Kerle, die verschlafen – handelt es sich dabei um die Verse, die du die letzten zehn Ehn vorgetragen hast?« erkundigte sich Gnieus.
»Ja, allerdings.«
»Ich stehe gewöhnlich jeden Morgen zur vierten Ahn auf.«
»Zur vierten Ahn!« rief Hurtha entsetzt. »Das ist aber ziemlich früh.«
»Leute, die länger unter den Fellen bleiben, sind meiner Meinung nach nichts weiter als faule Sleen«, fauchte der Mann, der ziemlich schlechte Laune zu haben schien. Vermutlich war er noch immer verärgert darüber, daß man ihn mit wenig mehr als mit dem Gewand auf dem Leib aus Torcodino vertrieben hatte.
Hurtha schauderte. »Ich fürchte, ich kann dir das Gedicht nicht widmen«, sagte er. »Du stehst einfach zu früh auf.«
»Das ist auch gut so, denn für Gedichte, dir man mir widmet, verlange ich ein Entgelt.«
»Was?« rief Hurtha.
Dieser Gnieus gefiel mir. Er war kein übler Kerl für jemanden, der aus Brundisium kam.
»Einen Silbertarsk«, knurrte er.
»Das ist sehr teuer«, jammerte Hurtha.
»Das verlange ich aber!«
»Haben wir einen Silbertarsk?« fragte Hurtha.
»Du willst eine deiner unbezahlbaren Widmungen für Geld verkaufen?« fragte ich.
»Niemals!« erklärte Hurtha entschlossen.
Das war knapp gewesen. Ich hatte einen Silbertarsk gerettet.
Gnieus Sorissius beschleunigte seine Schritte und tauchte in der Menge unter.
»Welch ein Schurke!« knurrte Hurtha ihm hinterher.
»Da hast du recht«, gab ich zu. Dabei wünschte ich mir, ich könnte meinen großen Freund so mühelos lenken, wie es Gnieus Sorissius geschafft hatte, selbst wenn er aus Brundisium kam. Vielleicht hatte er ja schon früher mit den Dichtern der Alar zu tun gehabt.
»Vielleicht sollte ich das Gedicht doch dir widmen«, meinte Hurtha.
»Wir haben das Ende des Lagers erreicht«, sagte ich. Wir blieben stehen und blickten zurück. Das Lager bot ein prächtiges Bild. In der Ferne zeichnete sich Torcodino am Himmel ab.
»Ich glaube, ich sollte ein Gedicht schaffen, eine stimmungsvolle Ode«, sagte Hurtha.
»Und was ist mit dem Werk über Leute, die verschlafen?«
»Das werde ich wohl vernichten«, antwortete er. »Das Thema ist so gewöhnlich, vielleicht sogar meiner Fähigkeiten unwürdig. Würde es dich sehr stören?«
»Nein. Außerdem wäre damit das Problem mit der Widmung gelöst.«
»Allerdings.« Er schwieg für kurze Zeit. »Da ich uns einen Silbertarsk gespart habe – hättest du die Güte, ihn mir zu geben? Du weißt schon, alles teilen, wie immer.«
Alar sind in Mathematik nicht besonders bewandert, dafür sind sie aber meistens groß und furchteinflößend. Ich gab ihm das Geld.
»Danke. Laß uns weitergehen.«
»Warte mal«, sagte ich. »Ist dir an dem Lager nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Es ist sehr schön«, sagte Hurtha.
»Ich meine etwas anderes.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wir haben das Lager gerade verlassen.«
»Und?«
»Hier gibt es kein Schanzwerk, keine Verteidigungsgräben, nichts, um das Lager gegen einen Angriff von hinten zu schützen.«
»Bemerkenswert«, sagte Hurtha.
»Offenbar haben die Cosianer keinen Anlaß, die Ankunft eines Entsatzheeres aus Ar zu fürchten.«
»Das ist doch sehr seltsam, findest du nicht?«
»Ich finde es sehr bedenklich«, sagte ich. »Ich verstehe es nicht. Es ist doch eine ganz normale militärische Sicherheitsvorkehrung.«
»Wieso sind sie sich so sicher, daß Ar dem belagerten Torcodino nicht zur Hilfe kommt?« fragte der Alar.
»Ich weiß es nicht.« Wie so vieles andere in den letzten Wochen fand ich auch diese Einzelheit äußerst beunruhigend. Es schien eine weitere Abweichung von den militärischen Gepflogenheiten zu sein, gleichermaßen unerklärlich wie das Fehlen befestigter Lager oder die ohne Geleitschutz reisenden Nachschubzüge. Zusammengenommen nahmen diese Beobachtungen alarmierende Ausmaße an.
»Wie läßt sich das erklären?« fragte Hurtha.
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl dabei.«
»Wir sollten weitergehen«, schlug einer der Männer vor, die mit uns stehengeblieben waren. »Wenn man uns hier erwischt, könnte man uns für Spione halten.«
Er hatte recht. Wir setzten den Weg fort. »Das ist die Schatzstraße«, erklärte ich und zeigte auf eine schmale Straße in der Ferne. »An ihrem Ende liegt Ar.«
Wir gingen langsam auf die Straße zu. Die meisten der Flüchtlinge hatten sie bereits erreicht oder hielten sich in ihrer Nähe auf. In meiner Schwertscheide ruhten die Passierscheine und die Briefe, die mir der Hauptmann überreicht hatte, Torcodinos neuer Beherrscher. Die Briefe trugen seine Unterschrift. Man konnte sie mühelos entziffern. ›Dietrich von Tarnburg.‹ Mein Blick fiel auf den kleinen Kerl mit dem Schnurrbart und den schmalen Augen. Anscheinend hinkte er etwas hinterher. Zu diesem Zeitpunkt verschwendete ich keinen Gedanken daran.
17
»Aus dem Weg! Na los!« rief der Kutscher. Er saß auf dem Kutschbock, der von der mit Sitzbänken ausgestatteten Transportfläche durch einen Spalt getrennt war. Die beiden Räder waren sehr schmal, hatten Metallspeichen und erreichten eine Höhe von etwa zwei Metern. Das Zugtier war ein Tharlarion, jedoch eine Züchtung mit einer geringeren Schulterbreite als die gewöhnlichen Kampftharlarion, die die Lanzenreiter der schweren Kavallerie benutzten.
»Reiche Tarsk«, knurrte ein Mann und trat beiseite.