»Wer kann denn so geschickt sein?« fragte Boabissia.
»Es gibt Krieger, die so etwas können«, sagte ich. »Die rothäutigen Stammeskrieger zum Beispiel.«
»Aber hier unter den Flüchtlingen?«
»Ein Dieb mit unglaublichem Geschick, der es wert wäre, das Diebesmal von Port Kar zu tragen.« Das Diebesmal von Port Kar ist ein dreizahniges kleines Brandmal, das unmittelbar über dem rechten Wangenknochen eingebrannt wird. Es markiert die Mitglieder der Diebeskaste von Port Kar. Soweit ich weiß, ist Port Kar die einzige Stadt, in der es eine offizielle Diebeskaste gibt. Die Mitglieder sind sehr stolz auf ihr Handwerk, das vom Vater auf den Sohn weitervererbt wird. Die Mitgliedschaft in der Kaste bringt einige Sonderrechte mit sich: Berufsmäßige Diebe genießen Schutz vor der Verfolgung und Ermordung durch Gildenbrüder, die ihre Gebiete eifersüchtig beschützen. Vermutlich ist es der Diebeskaste zu verdanken, daß in Port Kar viel weniger Diebstähle geschehen als in anderen Städten. Die Kaste hält ihre Mitgliederzahl stets gleich und überschaubar, genau wie die Vereinigungen anderer Berufe, beispielsweise die der Metallarbeiter oder Schneider.
»Feiqa«, sagte Boabissia.
»Ja, Herrin?« fragte Feiqa ängstlich. Die hübsche Sklavin war sofort auf die Knie gegangen, als sie von einer freien Person angesprochen wurde.
»Hast du etwas gesehen?« fragte Boabissia.
»Nein, Herrin«, sagte Feiqa und senkte den Kopf.
»Dumme Sklavin«, fauchte Boabissia.
»Ja, Herrin«, gab Feiqa flüsternd zur Antwort.
»Brauchen wir diese Dokumente an der Straßensperre?« wollte Hurtha wissen.
»Schon möglich. Wir sind in der Nähe von Ar. Ich weiß es nicht.«
»Es ist doch unwahrscheinlich, daß hier im Lager ein so geschickter Dieb sein Unwesen treibt«, meinte Boabissia.
»Wieso denn das?« fragte ich.
»Ich glaube, Feiqa hat sie gestohlen«, verkündete Boabissia.
»Nein, Herrin!« schrie Feiqa auf.
»Foltern wir sie, bis sie die Wahrheit gesteht«, schlug Boabissia vor. Goreanische Gerichte erkennen die Folter von Sklaven als legales Mittel der Wahrheitsfindung an. Es geschieht sogar ziemlich häufig.
»Bitte, nein, Herrin!« schluchzte Feiqa.
»Sie hätte es kaum schaffen können«, sagte ich. »Sie hatte die ganze Nacht die Hände auf den Rücken gefesselt, damit sie mich bei Morgenanbruch auf intime Weise wecken konnte – ohne die Hände zu benutzen«, sagte ich.
»Wie ekelhaft!« stieß Boabissia hervor.
»Danach habe ich sie auf den Rücken gelegt und liebkost, bis sie um weitere Aufmerksamkeiten bettelte, die ich ihr dann auch erwiesen habe. Sie ist nur eine Sklavin.«
»Das stimmt«, sagte Boabissia. Sie sah Feiqa an. »Schlampe!«
»Ja, Herrin«, sagte Feiqa und mied ihren Blick.
Boabissia haßte Feiqa aus ganzem Herzen. Hielt sie es tatsächlich für verwerflich, daß Feiqa ihrem Herrn solch unglaubliche Wonnen bereitete? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Schließlich war das Feiqas Aufgabe als Sklavin. Ich vermutete eher, daß sie auf Feiqa eifersüchtig war, da ihr als freier Frau solche Erlebnisse verwehrt blieben.
»Unter den Flüchtlingen ist bestimmt kein so geschickter Dieb«, sagte sie und blickte die am ganzen Leib zitternde Feiqa unheilvoll an. »Es kann nur die Sklavin gewesen sein. Laß sie foltern.«
Feiqa stöhnte.
»Sie kann es aber nicht gewesen sein!«
»Wer dann?«
»Du vielleicht«, sagte Hurtha, trat hinter Boabissia und packte sie bei den Oberarmen. Es war kein sanfter Griff.
»Nein!« schrie Boabissia und wand sich hilflos. »Nein!«
»Vielleicht sollte man dich foltern«, knurrte Hurtha.
»Nein, nein!« keuchte Boabissia. »Ich bin eine freie Frau!«
»Es ist durchaus denkbar, daß unter den Flüchtlingen ein geschickter Dieb ist«, meinte ich.
»Weißt du mehr als wir?« fragte Hurtha.
Ich nickte.
»Wer?«
»Warte hier!« bat ich.
»Wer?« beharrte Hurtha auf seiner Frage.
»Ein gewisser Ephialtes aus Torcodino, man hat mich vor ihm gewarnt.«
»Ich begleite dich«, sagte er sofort. »Ich breche ihm das Genick.«
»Davon kriegen wir die Papiere auch nicht zurück«, erwiderte ich. »Warte hier.«
»Einige der Kutschen und viele der Flüchtlinge haben das Lager bereits verlassen«, erklärte Boabissia und riß sich von Hurtha los. Sie zitterte. Sie war es nicht gewohnt, auf diese Weise von einem Mann behandelt zu werden.
»Wartet hier«, wiederholte ich.
Boabissia machte Anstalten, mich zu begleiten, aber Hurthas Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück.
»Hör auf!« schrie der Mann schmerzerfüllt. Ich hielt ihn im Nacken gepackt und zwang ihn auf die Knie und dann weiter auf den Bauch. Er kämpfte gegen den Griff an. Ich stieß sein Gesicht in den nachgiebigen Erdboden. Sofort verstummte er. Ich gestattete ihm, den Kopf ein Stückchen zu heben. Er hustete und keuchte.
»Wo sind sie?«
»Was, was?« stieß er hervor und spuckte Erde aus.
»Die Papiere.«
»Du kannst mich hier nicht bestehlen«, sagte er. »Hier sind zu viele Zeugen!«
Es stimmte; einige Männer hatten sich um uns versammelt. »Haltet euch da raus!« warnte ich sie. Dann stieß ich sein Gesicht wieder in den Dreck. Er spuckte aus und drehte den Kopf keuchend zur Seite.
»Wo sind sie?«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Papieren«, keuchte er.
»Haltet euch da raus!« wiederholte ich meine Warnung an die Männer. Einige hielten schwere Keulen in den Händen.
Dann zog ich ein Stück Schnur aus der Gürteltasche, band ihm die Füße zusammen und fesselte die Hände an die Fußgelenke. Er kam auf der Seite zu liegen. Ich durchsuchte gründlich seine Besitztümer.
»Was soll das?« fragte er. »Haltet ihn auf!« rief er den Umstehenden zu. Ein Mann trat einen Schritt vor, aber keiner griff ein.
»Er ist bewaffnet«, sagte einer der Flüchtlinge zu dem Gefesselten.
»Ich kann sie nicht finden!« sagte ich laut.
»Was sucht er überhaupt?« fragte ein Mann, der gerade zu der Gruppe gestoßen war.
»Irgendwelche Papiere«, erhielt er zur Antwort.
Ich wandte mich wieder dem Gefesselten zu. »Wo sind sie?«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Dokumenten. Binde mich los!«
»Nimm ihm die Fesseln ab«, verlangte der Neuankömmling; der Kleidung nach zu urteilen, war er ein Kaufmann. Er hatte sich zum Sprecher der Gruppe gemacht, ohne jedoch mutig vorzutreten.
»Ja. Was soll das überhaupt?« rief ein anderer.
»Dieser Kerl ist ein Dieb«, verkündete ich der Menge. »Er hat mir wichtige Papiere gestohlen. Die will ich zurückhaben.«
»Ich bin kein Dieb«, verteidigte sich der Gefesselte.
»Hast du gesehen, wie er sie gestohlen hat?« fragte der Kaufmann.
»Nein.«
»Hat ihn denn jemand anders dabei beobachtet?«
»Nein«, erwiderte ich gereizt.
»Woher willst du dann wissen, daß er sie gestohlen hat?« Es war keine unvernünftige Frage. »Du kannst sie nicht finden«, stellte der Kaufmann fest. »Ist das nicht ein deutlicher Hinweis, daß du dich getäuscht hast?«
Ich öffnete den Geldbeutel. Er enthielt nur Münzen. Ich warf sie wieder hinein und zog das Verschlußband zu.
»Wo hast du sie versteckt?« fragte ich ihn. Meine Stimme hörte sich nicht freundlich an.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, flüsterte mein Gefangener. Er hatte begriffen, daß ich es ernst meinte. Er hatte Angst.
»Hast du sie bereits verkauft?«
»Ich weiß doch nichts. Bist du ein Dieb?«
»Nein.«
»Löse seine Fesseln!« verlangte der Kaufmann. »Du hast keinen Beweis.«
»Er hat ein Schwert«, sagte sein Nebenmann. »Er braucht keinen Beweis.«
»Laß ihn gehen!«
»Er ist ein Dieb!« stieß ich ärgerlich hervor.
»Das bin ich nicht«, sagte der Gefangene.
»In Torcodino ist er ein stadtbekannter Dieb!« verkündete ich.
»Unsinn!«