Выбрать главу

»Schlangen, Schlangen«, sagte Hurtha.

»Fängst du wieder am Anfang an?« fragte ich.

»Nein. Ich mache da weiter, wo ich aufgehört habe. Willst du das Gedicht wirklich hören?«

»Ja, natürlich.« War es möglich, daß eine gewisse tief verinnerlichte Höflichkeit, die ich meiner amerikanischen Erziehung zu verdanken und bis jetzt im großen und ganzen als harmlos eingestuft hatte, doch gelegentlich Nachteile mit sich brachte?

»Dann unterbrich mich nicht dauernd.«

»Tut mir leid.«

»Diese Schlangen, Schlangen, Schlangen, Schlangen sind lang, sehr lang, diese Schlangen, Schlangen, Schlangen.«

»Das ist sie«, bestätigte ich.

»Was?«

»Diese Schlange«, sagte ich. »Sie ist sehr lang.«

»Ja«, stimmte Hurtha mir mißtrauisch zu. »Bitte unterbrich mich nicht.«

»Entschuldige«, kicherte ich. Wie oft bietet sich einem durchschnittlichen Burschen wie mir schon die Gelegenheit, einen Dichter auf den Arm zu nehmen?

»Du bist wirklich ein Scherzbold«, bemerkte Boabissia.

»Danke.« Aber nach ihrem Tonfall zu urteilen, war diese Bemerkung offenbar alles andere als ein Kompliment. Vermutlich war sie durch ihre Zuneigung für den kräftigen Alar voreingenommen. Denn die Bemerkung kam bestimmt nicht durch ihre Liebe für die Dichtkunst zustande. Ich warf Feiqa einen Blick zu. Sie lächelte, denn sie war überaus klug. Als sie mich bemerkte, senkte sie rasch demütig den Kopf, vielleicht sogar demütiger, als unter diesen Umständen angebracht war.

»Sei froh, daß Hurtha dich nicht mit einem gewaltigen Schlag zu Boden schickt«, sagte Boabissia.

»Das bin ich auch«, erwiderte ich. »Und wie ich das bin.«

»Dürfte ich fortfahren?« fragte Hurtha.

»Bitte.«

»Diese langen Schlangen, Schlangen, Menschenschlangen, sie machen mich müde, die langen Schlangen, Schlangen, Menschenschlangen.«

Ich konnte es nicht fassen. Aber ich enthielt mich jeder Bemerkung.

»Ich mag sie nicht, diese Schlangen, Schlangen, Menschenschlangen, diese langen Schlangen.«

»Das war’s?« fragte ich.

»Das ist die erste Strophe«, erklärte Hurtha. »Außerdem schöpfe ich Atem.«

»Hattest du nicht gesagt, es sei ein kurzes Gedicht?«

»Du brauchst es dir nicht anzuhören, wenn du nicht willst. Ich kann es auch Boabissia vortragen.«

»Nein, nein. Ich war nur der Meinung, du hättest gesagt, es sei ein kurzes Werk.«

»Das war es auch«, sagte er. »Aber seitdem habe ich es verlängert. Hältst du das Thema etwa keiner tiefschürfenden Behandlung für wert?«

»Doch, doch.«

Alles rückte ein paar Schritte vor.

»Gefällt es dir nicht?«

»Es ist ausgezeichnet«, erwiderte ich. »Ich bin mir bloß nicht sicher, ob es das Niveau deiner anderen Werke erreicht.«

»Was ist denn schlecht daran?«

»Es erscheint mir etwas zu lang zu sein«, gab ich zu bedenken. »Außerdem ist es etwas eintönig.«

»Eintönig?« fragte er ungläubig.

»Genau.« Zum Beispiel das Wort ›Schlangen‹. Philebus, der Weinhändler aus Torcodino, trat einen Schritt vor. Hurtha brach in Gelächter aus und riß mich mit Tränen in den Augen an die Brust. Ich bemühte mich, den angeblichen Philebus nicht aus dem Blickfeld zu verlieren, damit er sich die Gelegenheit nicht zunutze machte und die Flucht ergriff.

»Mein armer, teurer Freund!« rief Hurtha. »Was hast du doch für ein schlichtes Gemüt! Wie wenig du doch von der Dichtkunst verstehst! Dieses Gedicht ist natürlich absichtlich so lang, die Länge erweckt die den Versen innewohnende Allegorie der Langwierigkeit zum Leben und bringt die vernichtende Langeweile des bürokratischen Angriffs auf den Geist und die Sinne eines Mannes zum Ausdruck, und zwar auf unzweifelhafte Weise, die du in ihrer Tragweite vielleicht noch nicht ganz begriffen hast.«

»Aha«, machte ich.

»Außerdem ist die wiederholte Betonung des Wortes ›Schlangen‹ auf ähnliche Weise beißend und hintergründig, ein Wort, das auf einer Ebene, zu der du – wie ich hoffe – noch Zugang finden wirst, das Konzept der Schlange einerseits mit Nachdruck verdeutlicht und die gefühlsmäßige Bedeutung hervorhebt. Dieser Begriff, dieses unausweichliche Sinnbild der heimtückischen bürokratischen Krankheit, gewinnt dabei eine beinahe erhabene Symbolik.«

»Ich verstehe.«

»Darf ich nun fortfahren?«

»Bitte.« Hurthas Ausführungen hatten mich so tief beeindruckt, daß sich Philebus unbemerkt hätte davonmachen können, aber als ich nachsah, stand er noch immer an seinem Platz. Anscheinend wollte er seinen Platz in der Schlange nicht verlieren. Ich kam zu dem Schluß, daß ich – der ich nun einmal ein einfacher Soldat und dem Kriegerhandwerk ergeben war – in Zukunft lieber darauf verzichtete, Dichter und ihre Kunst zu beurteilen. Dichtkunst war gefährlich und gewichtig. Einen flüchtigen Augenblick lang beneidete ich Hurtha. Er war Krieger und Poet.

Dann erfreute uns der Alar mit seinem Gedicht, das in der Tat etwas von der Unergründlichkeit und der Schwerfälligkeit der Institution hatte, die seine Inspiration gewesen war. Ich lauschte andächtig und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf den angeblichen Philebus. Boabissia schien von Hurthas Worten völlig verzaubert zu sein, wie ich mit einer Mischung aus Skepsis und Neid bemerkte. Feiqa mied meinen Blick. Philebus schien sich gelegentlich ohne Rücksicht auf seinen Platz in der Schlange aus unserer Nähe entfernen zu wollen, vor allem wenn Hurtha zu einem oft wiederholten aufrüttelnden Refrain kam, aber das verhinderte meine Hand an seinem Kragen. Ich verzichte darauf, Hurthas Gedicht in seiner ganzen Länge wiederzugeben, da ich der Meinung bin, seine künstlerischen Neigung ausreichend dargestellt zu haben. Möglicherweise würde ich ihm auch nicht gerecht werden. Werke der Dichtkunst sollte man hören, nicht lesen. Zumindest die meisten von ihnen. Sie sind für das Ohr bestimmt, nicht für das Auge. Und das bloße Lesen kann einem kaum den Eindruck vermitteln, den der Vortrag hat, besonders wenn es sich bei dem Vortragenden um Hurtha handelt.

Endlich standen wir vor der Straßensperre. »Gehörst du zu den Taurentianern?« sprach ich einen Soldaten mit purpurfarbenem Helm an.

Er antwortete nicht.

»Für Taurentianer seid ihr aber weit von Ar entfernt«, fügte ich hinzu. Es war noch mindestens ein voller Tag bis nach Ar. Ich sah wenig Sinn darin, daß die Taurentianer, die ja angeblich die Palastwache stellen sollten – sie patrouillieren auch gewisse Stadtteile –, so weit von der Stadt entfernt waren, ganz besonders in diesen schwierigen Zeiten.

Er ließ mich einfach stehen, ohne ein Wort.

»Ein mürrischer Kerl«, bemerkte Hurtha leicht verstimmt.

Wir waren nur noch wenige Meter von der Kontrolle entfernt. Rechts neben uns ragte am Straßenrand der Pfahl in die Höhe, den wir von der Kutsche aus gesehen hatten. Er besaß einen Durchmesser von etwa fünfzehn Zentimetern. Der aufgespießte Tote war von kleiner Statur; die Spitze war mit großer Gewalt durch seine Brust getrieben worden. Ich sah einige freiliegende Rippen. Seine Gliedmaßen baumelten herunter. Der Pfahl war blutverschmiert. Ein paar festgenagelte Blätter flatterten im Wind.

»Wartet!« bat ich.

»Was ist denn?« wollte Boabissia wissen.

»Den Burschen kennen wir doch, oder?« fragte ich und sah mir den Toten genauer an.

Boabissia wandte angeekelt den Blick ab. Feiqa hielt krampfhaft den Kopf gesenkt.

»Er kommt mir bekannt vor«, gab Hurtha zu.

»Er sollte uns auch bekannt vorkommen«, meinte ich. »Er hat zusammen mit uns Torcodino verlassen. Er war einige Tage lang unser Reisegefährte.«

Ich sah zu dem baumelnden Kopf hinauf. Der Mund war aufgerissen, ich sah Gaumen und Zähne. Von den Mundwinkeln hingen Schnurrbarthaare herab wie zwei Stücke Schnur.

»Also haben sie ihn endlich erwischt«, sagte ein Mann, der vor uns in der Schlange stand.

»Genau«, sagte der Reisende, der hinter Feiqa stand.

»Kennt ihr ihn?« fragte ich.

»Natürlich«, sagte der Reisende. »Jeder aus Torcodino kennt ihn.«