»Halt mir den Platz frei!« bat ich Hurtha.
»Den wird niemand einnehmen«, versprach der Alar, rückte die auf der Schulter ruhende Axt zurecht und blickte sich fröhlich um.
Ich trat zu dem Pfahl am Straßenrand und sah mir die festgenagelten Seiten an. Der Wind hatte sie teilweise zerrissen; wo das Blut hinabgelaufen war, waren sie blutverschmiert.
»Was tust du da?« fragte ein Taurentianer.
»Was hat er verbrochen?«
»Er trug falsche Papiere bei sich«, antwortete der Soldat, »kehr zu deinen Platz zurück.«
Ich gehorchte. »Kennst du den Kerl?« fragte ich Philebus, den Weinhändler, mit dem ich so grob umgesprungen war.
»Natürlich«, sagte er.
»Er hat dich als Ephialtes aus Torcodino bezeichnet.«
»Ich bin aber Philebus aus Torcodino«, erklärte er.
»Und wer ist er?«
»Das ist dein Mann. Das ist Ephialtes.«
»Es tut mir leid, wie ich dich behandelt habe.«
»Meine blauen Flecke freuen sich, das zu hören.«
»Es tut mir wirklich leid«, erwiderte ich. »Ich hoffe, ich habe deine Gefühle nicht verletzt.«
»Meinen Gefühlen fehlt nichts. Nur mein Körper hat Schaden genommen. Er ist es, der Schmerzen leidet.«
»Wie gesagt, es tut mir von ganzem Herzen leid«, versicherte ich.
»Es könnte viel schlimmer sein«, sagte Philebus. »Stell dir vor, wieviel mehr leid es dir jetzt täte, hättest du mir das Genick gebrochen.«
»Das stimmt«, sagte Hurtha. »Man muß für vieles dankbar sein.«
»Was waren das für Papiere?« fragte Boabissia.
»Das erzähle ich dir später.«
»Der nächste!« rief der Taurentianer am Durchgang Philebus zu. »Was willst du in Ar?«
»Ich bin Weinhändler. Man hat mich aus Torcodino vertrieben. Ich habe in Ar Verwandte und will bei meiner Kaste um Asyl nachsuchen.«
»Kannst du dich ausweisen?« fragte der Soldat.
»Ich habe Dokumente, die meine Kastenzugehörigkeit beweisen«, sagte er und kramte Papiere aus dem Rucksack.
Der Taurentianer schrieb eine Notiz auf die Rückseite und winkte ihn durch.
»Ich heiße Tarl«, sagte ich und trat vor. »Ich komme aus Port Kar, einer Stadt, die neutral zu Ar steht. Mein Freund hier ist Hurtha, ein Alar. Die freie Frau ist Boabissia, ebenfalls aus dem Lager der Alar. Die hübsche Schlampe, die mein Gepäck trägt, gehört mir. Wir haben in Ar verschiedenes zu erledigen. Nicht zuletzt wollen wir dort unser Glück machen.«
»Kannst du dich ausweisen?« fragte der Soldat.
Ich schüttelte den Kopf.
»Du hast keine Papiere?«
»Nein. Wir haben keine wie auch immer gearteten Dokumente dabei.«
Der Taurentianer musterte mich einen Augenblick lang, dann winkte er uns durch. Boabissia zitterte am ganzen Leib. Ein par Ehn später saßen wir wieder in der offenen Überlandkutsche und fuhren in Richtung Ar.
Als wir die Straßensperre hinter uns ließen, blickte ich zurück. Noch immer warteten Leute in der Schlange, weitere Kutschen fuhren heran. Die verkrümmte Leiche von Ephialtes aus Torcodino hing auf dem Pfahl, die angenagelten Passierscheine flatterten im Wind. Ich war ein Narr gewesen. Es war Ephialtes gewesen, der geschickt die Aufmerksamkeit von sich auf einen unschuldigen Weinhändler gelenkt hatte. Auf gewisse Weise mußte ich ihn bewundern. Vieles ergab nun einen Sinn. Seine direkte Frage nach Wertsachen hatte mich wider Willen dazu gebracht, ihr Versteck preiszugeben, indem ich unwillkürlich nach der Schwertscheide tastete. Dann hatte er mit großem Geschick die Passierscheine aus der Scheide gestohlen und hinterher sogar die Klinge wieder zurückgesteckt. Hätte ich nicht wie gewöhnlich jeden Morgen das Schwert überprüft, wäre mir ihr Fehlen vor Erreichen der Straßensperre gar nicht aufgefallen. Die ein Stück tiefer versteckten Briefe an Gnieus Lelius, den Regenten von Ar, und Seremides, den Hohen General, hatte der Dieb übersehen. Doch nun hatte ich gemischte Gefühle, was sie anging. Ich war jetzt mehr denn je von ihrer Wichtigkeit überzeugt, doch das galt auch für die Gefahr, die ihr Besitz mit sich brachte.
Die Taurentianer waren weit weg von Ar. Ich hatte den Verdacht, daß mächtige Leute ihnen den Auftrag gegeben hatten, Reisende und Flüchtlinge zu kontrollieren und diejenigen herauszusuchen, die ihren Zielen feindlich gegenüberstanden. Nun wußte ich, aus welchen Gründen es die anderen Kuriere vermutlich nicht geschafft hatten, mit dem Regenten Kontakt aufzunehmen. Ohne jeden Zweifel hatte man Ephialtes wegen des Besitzes der Passierscheine irrtümlich für einen Agenten Dietrich von Tarnburgs gehalten. Ich erschauderte. Ich hatte Glück gehabt, daß der Dieb und nicht ich die Dokumente an der Straßensperre vorgezeigt hatte. Vermutlich wäre ich der Aufforderung des Offiziers gefolgt und hätte sie ihm überreicht. Und wenn nicht hier, dann an anderer Stelle.
Ich lächelte bitter. Passierscheine, von wegen! Es waren wohl eher Todesurteile gewesen, die jeden in tödliche Gefahr brachten, der so mutig oder dumm war, sie mit sich zu führen. Ephialtes’ Leiche verschwand in der Ferne. Er hatte Schutz stehlen wollen, doch nur Tod bekommen. Wie ein winziges Insekt hatte er sich in einem dunklen und schrecklichen Netz verfangen, dessen Existenz er nicht einmal erahnt hatte.
»Was waren das für Papiere, die man an den Pfahl genagelt hat?« fragte Boabissia.
»Unsere Passierscheine«, antwortete ich und drehte mich um. »Morgen früh sind wir in Ar. Vielleicht kannst du vom Nachtlager aus schon die Lichter sehen.«
»Ist Ar eine große Stadt?«
»Ja«, sagte ich. »Das ist eine große Stadt.«
19
»Wenn wir über den Hügel sind, könnt ihr Ar sehen!« rief der Kutscher.
Boabissia stand von der Sitzbank auf und trat an die Querstange des Passagierabteils. Sie umklammerte sie mit beiden Händen.
»Weg da, beiseite!« schrie der Kutscher Reisenden zu, die die Straße blockierten.
Die Sonne schien auf unserer linken Seite. Der Berg war steil. Einige Kutschen erklommen die Steigung. Niemand hielt auf dieser Seite an, sondern nur auf der anderen, wo man in Ruhe die Stadt sehen konnte.
Eine Frau mit einem Bündel auf dem Rücken geriet ins Stolpern, faßte wieder Tritt und eilte am Straßenrand entlang. Mehr als nur einer der Passagiere erhob sich von seinem Platz. Der Kutscher hielt auf dem Hügelkamm an. Der Anblick Ars war mir nicht neu. Er würde mich weniger bewegen als andere, die ihn das erste Mal genossen.
»Unglaublich!« sagte ein Mann.
»Wunderbar!« flüsterte ein anderer.
Ihre kindliche Begeisterung brachte mich zum Lächeln. Dann stand auch ich auf. Vier oder fünf Pasang vor uns erhoben sich die funkelnden Mauern des prächtigen Ar.
»Ich wußte gar nicht, wie groß diese Stadt ist«, sagte jemand.
»Da ist der Zentralzylinder!« rief ein anderer Reisender und streckte den Arm aus.
In der Ferne erstreckten sich die Stadtmauern, die es auf eine Höhe von hundert oder mehr Metern brachten. Sie waren nun weiß. Der neue Anstrich konnte nur aus der Zeit nach der Herrschaft Cernus’ des Thronräubers und der nachfolgenden Wiedereinsetzung Marlenus’, des Ubars aller Ubars, stammen. Sie anzusehen, fiel schwer, denn das Sonnenlicht verlieh ihr einen grellen Schein. Man sah das große Tor und die Viktel Aria, die zu ihm hinführende Hauptstraße. Bald würden auch wir auf ihr fahren. Innerhalb der mächtigen funkelnden Mauern erhoben sich Tausende von Gebäuden und ein wahrhafter Wald aufstrebender Türme unterschiedlicher Höhen und Farben. Wie ich wußte, wurden viele dieser Türme auf verschiedenen Ebenen durch ein Netzwerk erhabener Brücken miteinander verbunden. Aus dieser Entfernung erkannte man sie jedoch mit Ausnahme eines gelegentlichen Funkeins kaum.
»Ich glaube nicht, daß ich je so etwas Schönes gesehen habe«, sagte ein Mann.
Wir sahen auf die wohl großartigste Stadt des bekannten Gor.
»Ich hätte nie gedacht, daß Ar so aussieht!« murmelte ein anderer der Passagiere.
Ich erinnerte mich an das Große Tor. Ich erinnerte mich an die Horde des Pa-Kur. Ich hatte nichts vergessen: das Haus des Cernus, das Stadion der Tarns, den großen Tarn mit dem Namen Ubar des Himmels, die sich befehdenden Fraktionen und das Stadion der Klingen mit seinem blutigem Sand. Genausowenig wie ich die Straßen, die Bäder, die Läden, die edlen breiten Straßen mit ihren Springbrunnen oder die gewundenen schmalen Gassen der unteren Distrikte vergessen hatte, die – vom Sonnenlicht abgeschirmt – kaum breiter als ein dunkler Korridor waren.