»Aber sie nennt doch bestimmt keinen Heimstein ihr eigen.«
»Gnieus Lelius hat ihr erlaubt, den Heimstein zu küssen. Es war eine öffentliche Zeremonie. Sie ist wieder Bürgerin von Ar.«
»Gnieus Lelius scheint ein großzügiger, ehrenhafter Bursche zu sein.«
»Er ist ein Patron der Künste«, sagte der Bürger. »Er hat Parks und Museen gestiftet. Auf diese Weise hat er die Eliten für sich gewonnen. Meine Stimme hat er, weil er verschiedenen Klassen ihre Schulden erließ. Das hat meine finanziellen Bürden beträchtlich erleichtert. Die unteren Kasten lieben ihn, weil er auf eigene Kosten Brot und Paga verteilen läßt und Spiele und Rennen finanziert. Außerdem hat er neue Feiertage eingeführt. Er hat das Leben in Ar angenehmer und leichter gemacht. Das Volk ist größtenteils auf seiner Seite.«
»Bist du davon überzeugt, daß ihm das Wohl von Ar am Herzen liegt?«
»Natürlich.«
»Ist es schwer, ihm einen Besuch abzustatten?«
»Man geht nicht einfach zum Zentralzylinder und klopft an seine Tür«, antwortete er.
»Das kann ich mir auch nicht vorstellen.«
»Aber Gnieus Lelius hat es sich zur Aufgabe gemacht, für das Volk erreichbar zu sein. Das ist einer der Gründe, warum er so beliebt ist.«
»Also werden Bürger zum Regenten vorgelassen und können ihn nicht nur aus der Ferne sehen, bei offiziellen Spielen oder Prozessionen?«
»Aber natürlich.«
Das hörte ich gern. Ich hatte eilige Briefe für Gnieus Lelius und Seremides. Irgendwie mußte es mir gelingen, sie ihnen auszuhändigen. Ich hatte befürchtet, dies könnte mit großen Schwierigkeiten verbunden sein; ich wollte diese Briefe auf keinen Fall irgendwelchen Untergebenen überlassen. Wem konnte man schon vertrauen? Davon abgesehen verspürte ich keine Lust, mir den Weg durch die Korridore des Zentralzylinders freizukämpfen, nur um eine Privataudienz zu erringen.
»Man kann also tatsächlich mit ihm sprechen?« vergewisserte ich mich.
»Aber sicher.«
»Wann findet die nächste öffentliche Audienz statt?«
»In zwei Tagen.«
»Ist da Gerichtstag?«
»Viel besser«, sagte der Bürger. »Das ist einer der neuen Feiertage, der Tag der Großzügigkeit und der Bittsteller. Die Audienzen finden in der Nähe des Zentralzylinders statt, auf der Straße des Zentralzylinders.«
»Ich danke dir«, sagte ich.
»Willst du ihn denn sprechen?«
»Es könnte mich reizen, einen Blick auf ihn zu werfen.«
»Er ist ein charmanter Mann.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Viele unbedeutende Bitten werden erfüllt«, fuhr er fort. »Und auch einige der größeren. Bei den schwierigen Fällen hängt es natürlich von der Rechtmäßigkeit der Bitte ab.«
»Das ist verständlich.«
»Die Bittsteller müssen sich am Seil einfinden.«
»Was ist das?«
»Der Regent kann natürlich nicht jedem eine Audienz gewähren. Diejenigen, denen der Zutritt gewährt wurde, tragen das Gnieus Lelius-Großzügigkeitsband, das um ihre Taille geschlungen ist und dann an dem Seil, das zum Thronpodest führt, festgebunden wird. Nun ja, eigentlich ist es kein Seil, sondern eine Samtkordel. Das hilft, die Reihe gerade zu halten. Außerdem hat man so die Zahl der Bittsteller unter Kontrolle, da dies alles unter freiem Himmel geschieht.«
»Ich verstehe. Und wie bekommt man einen Platz am Seil?«
»Das ist manchmal eine häßliche Angelegenheit.«
»Schön!« rief Hurtha erfreut.
»Vermutlich sollte man früh da sein«, sagte ich.
»Manche Leute sind bereits zur vierzehnten Ahn des Vortags da.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Nochmals vielen Dank, Bürger.«
»Du könntest es in Ludmillas Freudenhausgasse versuchen. Es liegt hinter der Straße von Turia.«
»Was denn?«
»Das Haus, das ich euch empfehle.«
»Ach so, ja richtig.«
»Weißt du, wo das ist?«
»Ich kenne die Straße von Turia, danke.« Der Name leitete sich von der Stadt in der südlichen Hemisphäre ab und ist zweifellos eine freundliche Geste von seiten Ars. Die Straßenseiten werden passenderweise von stattlichen Tur-Bäumen gesäumt. Es ist eine breite Allee mit Springbrunnen. Sie ist bekannt für ihre eleganten Läden.
»Es ist in der Nähe der Straße der Brandzeichen.«
»Genau.«
»Nochmals vielen Dank. Wir versuchen es dort.«
»Ich wünsche dir alles Gute.«
»Ich wünsche dir ebenfalls alles Gute.«
Er drehte sich um und ging. Die Frau, die in der Nähe auf einer Wolldecke vor ihrem Korb Suls saß, sah auf. »Wollt ihr Suls?«
»Nein.«
»Dann verschwindet.«
»Kommt«, sagte ich zu meinen Gefährten. Ich führte sie auf der Venaticus in östliche Richtung, bis wir zur Straße des Zentralzylinders kamen. Eigentlich wollte ich auf der Allee nach Süden gehen, bis wir zur Straße der Wagen kämen. Es gibt in Ar mehrere Straßen der Wagen, aber jene, die ich im Sinn hatte und die zur Straße der Brandeisen führte, wurde allgemein Straße der Wagen genannt. Straßen mit diesem Namen verlaufen gewöhnlich von Osten nach Westen; ich glaube, man nennt sie so, weil sie tagsüber für den Wagenverkehr geöffnet und breit genug sind, daß zwei Fuhrwerke oder Kutschen aneinander vorbeifahren können. Viele Straßen Ars sind so schmal, daß der Wagenverkehr am Tag eingeschränkt ist. Bei den Alleen und Prachtstraßen ist das natürlich anders, denn sie sind in der Regel erheblich breiter. Übrigens kommen viele Mädchen über die Straße der Wagen nach Ar, obwohl sie nur wenig von der Umgebung sehen, da sie an den Zentralbalken der blaugelben Sklavenwagen gekettet sind. Die Nummern auf den Anhängern an ihren Sklavenkragen sorgen dafür, daß man sie bei dem richtigen Haus auf der Straße der Brandeisen abliefert.
»Wie schön!« rief Boabissia aus.
»Die Straße des Zentralzylinders«, sagte ich. »Sie ist wirklich schön. Hier entlang.«
»Ich bin durstig«, sagte Hurtha und ging auf einen der vielen Springbrunnen zu. Wir schlossen uns ihm an.
Hurtha lehnte seine Axt gegen den Brunnen, tauchte den Kopf ins Wasser und kam prustend wieder hoch. Er schöpfte eine Handvoll Wasser und spritzte es sich ins Gesicht, dann trank er. Ich bediente mich ebenfalls. Boabissia trank geziert auch einen Schluck. Offenbar hatte sie in unserer Gesellschaft etwas von ihrer Weiblichkeit entdeckt. Zumindest verzichtete sie auf die peinlichen und lächerlichen Versuche, das Benehmen eines Alar-Kriegers nachzuahmen.
Sie richtete sich wieder auf. »Da kommt eine Sänfte, die von Soldaten eskortiert wird«, sagte sie.
Ein paar Leute versammelten sich, um zuzusehen, doch sie achteten darauf, den Soldaten und der Sänfte genug Platz zu lassen. Die Seidenvorhänge waren zugezogen. Lange Stangen hielten die Sänfte zwischen den beiden Tharlarion, die sie trugen. Die Gruppe bewegte sich auf den Zentralzylinder zu. Die Soldaten waren Taurentianer.
»Ist das eine Frauensänfte?« fragte Boabissia.
»Ja«, antwortete ich.
»Es sind doch die Palastwachen, oder?« wollte Hurtha wissen.
»Vermutlich«, sagte ich. »Auf jeden Fall gehören sie zur selben Sorte wie die Palastwachen. Sie heißen Taurentianer.«
»Sie machen einen tüchtigen Eindruck.«
»Das sind sie auch, verlaß dich drauf.« Die Blicke der Soldaten ruhten vorwiegend auf der Menschenmenge. Es bestand wenig Zweifel, daß solche Männer eine tüchtige Wache bildeten. Nun wurde die Sänfte nicht von Sklaven, sondern von Tharlarion transportiert, wofür es mehrere Gründe geben konnte. Da war die einfache Zurschaustellung von Reichtum, da gute Tharlarion meistens teurer als Sklaven sind. Aber vielleicht schätzte man die Passagierin als zu kostbar ein, um sie der Nähe von Trägersklaven auszusetzen. Schließlich waren es Männer. Vielleicht hielt man sie auch einfach für zu schön, um sie den Händen von Sklaven zu überlassen. Konnte nicht immer etwas geschehen, wenn die Schönheit die Sänfte voller Anmut bestieg oder sie verließ? Eine sorglose Bewegung des Schleiers, die ein Stück Hals enthüllte, das unwillkürliche Anheben des Gewands der Verhüllung, das den Männern einen flüchtigen Blick auf ein nacktes Fußgelenk erlaubte?