»Wessen Sänfte ist das?« fragte ich einen Passanten.
»Weißt du das nicht?«
»Nein. Wir sind erst heute in Ar eingetroffen.«
»Aus Torcodino?«
»Ja.«
»Das ist die Sänfte der Frau, die vielleicht die Ubara von Ar wird.«
»Talena«, sagte ein anderer Mann.
»Was ist?« fragte Boabissia.
»Nichts«, erwiderte ich und sah der Sänfte hinterher. »Wie kann diese Talena die Ubara von Ar werden? Soviel ich weiß, hat Marlenus sie doch verstoßen.«
»Man kann ihr einen rechtmäßigen Anspruch auf die Thronfolge besorgen«, sagte der Passant. »Darüber wurde diskutiert.«
»Aber doch nicht als Angehörige von Marlenus’ Geschlecht.«
»Nein, das nicht. Aber man muß nicht zu Marlenus’ Linie gehören, um in Ar zu herrschen. Minus Tentius Hinrabius und Cernus haben beide Ar beherrscht, und keiner entstammte seiner Linie.«
»Das ist wahr«, sagte ich.
»Sie ist eine freie Bürgerin«, erklärte der Mann. »Also könnte man ihr den Anspruch verleihen.«
»Warum denn nicht Gnieus Lelius oder Seremides?«
»Erfreulicherweise ist keiner von beiden ehrgeizig.«
»Aber warum gerade sie?« wollte ich wissen. »Warum nicht irgend jemand anders?«
»Sie gehörte einst zur königlichen Familie. Sie war die Tochter des Marlenus.«
»Ich verstehe«, sagte ich und drehte mich wieder zur Sänfte um, konnte sie aber nicht mehr sehen.
»In welche Richtung müssen wir?« fragte Hurtha.
»Dort entlang.« Wir konnten auf der Straße des Zentralzylinders nach Süden gehen, etwa vier oder fünf Pasang, nach links auf die Straße der Wagen abbiegen und dort bis zur Straße von Turia bleiben. Irgendwo in der Nähe befand sich Ludmillas Freudenhausgasse. Auf der Straße von Turia würde ich noch einmal nach der Richtung fragen müssen, bezweifelte aber keinen Augenblick lang, daß wir das Viertel schnell finden würden.
»Wie heißt die Straße?« fragte Boabissia.
»Ludmillas Freudenhausgasse.«
»Der Name gefällt mir nicht«, sagte Boabissia.
»Ich finde nicht, daß es schlecht klingt«, sagte ich.
»Allerdings nicht«, meinte Hurtha.
21
»Hier stinkt es ja schrecklich«, beschwerte sich Boabissia.
»Übergib dich nicht«, sagte ich. »Du wirst dich schon daran gewöhnen.«
»Ich sage ihnen immer wieder, sie sollen den Deckel drauf legen«, murrte der Vermieter und hielt die kleine Lampe ein Stück höher. »Aber er ist natürlich schwer, und so bleibt er oft ein Stück geöffnet.« Mit einem knirschenden Geräusch schob er den schweren Terrakottadeckel auf dem großen Bottich zurecht. Er stand am Fuß der Treppe, wo man die Nachtgeschirre in den Bottich entleeren konnte. Diese Bottiche werden ein- oder zweimal pro Woche ausgetauscht; man lädt sie auf Wagen und bringt sie aus der Stadt, wo sie in eine der Carnarii, der Abfallgruben, geleert werden. Man spült sie aus, und der Kunde erhält sie wieder zurück, wenn es soweit ist. Es gibt mehrere Gesellschaften, die auf diesem Gebiet tätig sind. Die Arbeit selbst wird von Sklaven verrichtet, die dabei von freien Männern überwacht werden.
»Folgt mir«, sagte der Vermieter und stieg die Treppe hinauf. Sein Name war Achiates.
Ich machte den Anfang, dann kamen meine Gefährten. Feiqa bildete den Abschluß. Die Treppe war so schmal, daß zwei Leute kaum nebeneinander gehen konnten. Dadurch war sie leicht zu verteidigen. Außerdem war sie steil. Das war gut. Sie hatte keine offenen Seiten, sondern verlief zwischen zwei Wänden. Das sparte Platz und sorgte für zusätzliche Zimmer. In einem engen Insula ist Platz etwas Kostbares. Die Treppenstufen waren schmal. Das war nicht so gut, es sei denn, man hielt sich auf einem Treppenabsatz auf. Dort würde man sich dann zur Verteidigung aufstellen. Die Stufen waren alt, einige schon lose. Ein kurzes Stück gingen wir im Licht der engen Vorhalle, das durch die Jalousien des Eingangstors drang, aber dann waren wir auf die Lampe des Vermieters angewiesen. In ihrem Schein entstanden seltsame Schatten.
»Ich kann diesen Gestank nicht ertragen«, klagte Boabissia.
»Das Zimmer kostet ein Tarskstück die Nacht«, erklärte Achiates. »Nehmt es oder laßt es bleiben. Ihr habt Glück, daß überhaupt noch eins frei ist. Es herrschen geschäftige Tage in Ar.«
»Wir hätten eine bessere Unterkunft haben können, wenn es da nicht gewisse Schwierigkeiten gegeben hätte«, murmelte Boabissia gereizt.
Das war durchaus möglich, obwohl ich mich da nicht festlegen wollte. Einige der Insula, die wir uns angesehen hatten, erlaubten keine Sklaven auf dem Zimmer. Andere wiederum hatten ihre Gehege im Keller oder auf dem Hof. Ich wollte Feiqa jedoch bei uns haben. Sie war hübsch. Ich wollte nicht, daß man sie mir stahl.
»Das Insula von Achiates ist das beste Insula in ganz Ar!« prahlte der Vermieter.
»Es ist dunkel«, sagte Boabissia.
»Wie weit ist es noch?« fragte ich.
»Nicht weit.«
Wir stiegen weiter hinauf und kamen an einigen Treppenabsätzen vorbei. In den meisten Insula sind die Decken sehr niedrig; in den wenigsten Zimmern kann ein Mann aufrecht stehen. So hat man Platz für zusätzliche Etagen. Ich streckte die Hand aus und berührte die Mauern, die die Treppe einschlossen. Sie waren zerklüftet; an einigen Stellen gab es lange waagrechte Risse, immer dort, wo der statische Druck den Putz zum Platzen gebracht hatte. Das Insula des Achiates war möglicherweise das beste Insula in Ar, aber ich fand, daß sein Zustand dennoch nicht der allerbeste war. Ein paar kleine Reparaturen hätten nichts geschadet. Die Wände wirkten oftmals verrottet; es gab Wasser- und andere Flecken.
»Dieses Haus stinkt«, verkündete Boabissia. »Es stinkt.«
»Es sind diese verdammten Bälger«, sagte Achiates. »Sie sind zu faul, um nach unten zu gehen.«
»Hier wohnen Familien?« fragte Boabissia ungläubig.
»Natürlich. Die meisten meiner Mieter wohnen ständig hier.«
Wir stiegen weiter hinauf. Wir waren an mindestens sieben oder acht Etagen vorbeigekommen.
»Es ist stickig hier«, klagte Boabissia. »Ich kann kaum atmen.«
Solche Mietskasernen waren nicht für gute Lüftung bekannt, genausowenig für Eleganz oder Geräumigkeit. Dafür sind sie leicht zu beheizen.
»Es ist so heiß hier«, sagte Boabissia.
»Du hast aber viele Beschwerden«, bemerkte Achiates.
»Es ist so dunkel hier«, sagte Boabissia. »Wie soll man sich hier nur zurechtfinden?«
»Das wird schon besser mit der Zeit.«
»Du hättest im Treppenhaus Lampen anbringen sollen«, maulte Boabissia. »Ich nehme an, Tharlarionöl ist wohl zu teuer.«
»Ja«, sagte Achiates. »Aber es ist auch gegen das Gesetz.«
»Warum?« fragte ich.
»Die Feuergefahr.«
»Oh!« stieß Boabissia ernüchtert hervor.
Mietskasernen dieser Art sind berüchtigt wegen der Brandgefahr. Es kommt vor, daß ganze Stadtviertel durch ein einziges Feuer ausgelöscht werden.
»Dürfen wir im Zimmer eine Lampe haben?« fragte ich.
»Natürlich«, sagte der Vermieter. »Solange ihr ordentlich damit umgeht. Aber es könnte sein, daß ihr sie kaum anzündet. Sie verpestet die Luft.«
»Ist dein Haus versichert?«
»Nein.«
Das hörte ich gern. Er käme nicht in Versuchung, das Insula anzuzünden, um Geld von der Versicherung zu kassieren. Andererseits war es nicht ungewöhnlich, daß er das Gebäude nicht versichert hatte. Das lag nicht allein an der Zuversicht des Besitzers, sondern auch an der Schwierigkeit, eine Versicherung zu finden, deren Prämien bezahlbar waren. Die meisten Unternehmen dieser Art akzeptierten das mit einer Feuerversicherung verbundene Risiko nicht.
Wir kamen zum nächsten Absatz.
Ein Geräusch ertönte, und Achiates hob die Lampe. Ein Sklavenmädchen kam in Sicht. Sie war barfuß. Ihre außerordentlich kurze Tunika klaffte bis zum Nabel auf. Ihr Haar war zerzaust. Ihr Kragen funkelte im Lampenlicht. Als sie uns sah, warf sie sich gehorsam auf den Bauch.
»Sie gehört Clitus, dem Schneider. Er wohnt eine Etage höher«, erklärte der Vermieter.