»Ich glaube, mir wird schlecht.«
»Dann öffne den Fensterladen.«
»Das ist ein schreckliches Haus.«
»Es ist ein Insula. Hier wohnen Tausende.«
»Hier bleibe ich nicht!«
»Und deine Meinung?« fragte ich Hurtha.
»Es ist großartig«, antwortete er. »Zugegeben, mit erträglicherer Temperatur und Luft zum Atmen wäre der Raum noch schöner.«
»Ich bin nach Ar gekommen, um mein Erbe anzutreten«, sagte Boabissia, »und nicht, um auf einem Dachboden zu ersticken oder geröstet zu werden.«
»Keine Angst. Wenn draußen die Temperatur sinkt, wird es in diesen Häusern eiskalt, habe ich mir sagen lassen.«
»Da, siehst du?« sagte Hurtha.
»Hier bleibe ich nicht!« wiederholte Boabissia.
Ich ging bis zu der Luke zum obersten Stockwerk zurück. Achiates wartete unten.
»Wir nehmen das Zimmer!« rief ich und warf ihm einen Kupfertarsk zu. Er drehte sich um und stieg die Treppe hinunter, während ich mit der Lampe in das Zimmer zurückkehrte.
Man hatte den Fensterladen geöffnet. Durch einen schmalen schrägen Schaft drang ein kläglicher Lichtstrahl ins Innere. Staubflocken tanzten darin. Es war ein hübscher Anblick.
Ich blies die Lampe aus.
»Du hast doch wohl keinen Kupfertarsk für dieses Loch bezahlt«, sagte Boabissia.
»Ar ist mit Flüchtlingen überlaufen«, sagte ich. »Viele werden nicht so gut untergekommen sein.«
»Es ist ein schrecklicher Ort«, beharrte sie.
»Es ist möbliert«, sagte ich. An der einen Wand stand eine Truhe, in einer Zimmerecke lag Stroh. Man konnte es ausstreuen und darauf schlafen. Es gab auch ein paar zusammengefaltete Decken. Ein mit einem Schöpflöffel ausgestatteter Eimer enthielt Wasser, das vermutlich schon längere Zeit nicht mehr ausgewechselt worden war. Dann war da noch ein Nachtgeschirr für die menschlichen Bedürfnisse, das man in den Bottich im Erdgeschoß entleeren konnte. Es war ein langer Weg bis nach unten. Kein Wunder, daß die Töpfe gelegentlich aus dem Fenster entleert wurden, gewöhnlich mit einer lauten Warnung für die Passanten auf der Straße.
Ich sah mich genauer um.
In der einen Wand befand sich ein langer Riß. An einigen Stellen quietschte der Boden, wenn man darauftrat. Vermutlich lag das am Alter und an der mangelnden Pflege der Bohlen. Solche Mietskasernen wurden nur selten gut instandgehalten. Ihre Errichtung kostet nicht viel und ist leicht zu bewerkstelligen. Sie werden hauptsächlich aus Holz und Ziegeln erbaut. Behördliche Auflagen bestimmen ihre Höhe. Obwohl wir einige Etagen heraufgestiegen waren, befanden wir uns vermutlich nicht höher als zwanzig Meter über dem Straßenniveau. Ohne Stahlträger oder Eisenholz, wie es die Goreaner nennen und in Schmiedewerken herstellen – man benutzt es hauptsächlich beim Bau von Türmen –, fordert die Physik ihr unerbittliches Recht, was Höhen angeht. Daran ändert auch die geringere goreanische Schwerkraft nichts. Die Mietskasernen sind sehr empfindlich, was die Belastung des Baukörpers angeht; schon die geringsten Erdbewegungen reichen aus, um sie zu schwächen. Manchmal stürzen die Wände ein, oder ganze Etagen brechen zusammen.
Ich stellte die Lampe auf der Truhe ab.
»Das ist ein schreckliches Zimmer«, jammerte Boabissia. Sie kniete nieder und setzte sich dann mit geschlossenen Oberschenkeln auf die Seite. Sie saß nicht länger mit überkreuzten Beinen da oder nahm die Pose eines Alar-Kriegers ein. Ich glaube, sie hatte bis zu einem gewissen Grad begriffen – ohne es vielleicht in seinem ganzen Ausmaß zu verstehen –, daß sie eine Frau war.
Das Zimmer war staubig und schäbig.
Hurtha saß mit überkreuzten Beinen auf dem Boden und überprüfte die Axt.
Das Zimmer war heiß. Es war klein. An der einen Seite hing ein Sklavenring mit Ketten und einem Eisenkragen in Frauengröße. Hand- und Fußschellen waren ebenfalls vorhanden. An einem Haken neben der Tür hingen verschiedene Schlüssel, außerhalb der Reichweite des Rings. Daneben baumelte eine Sklavenpeitsche.
Wie gesagt: das Zimmer war möbliert.
22
Ich rief: »Hurtha! Nein!« Aber es war bereits zu spät. Der Mann hatte einen Hieb mit dem Axtgriff in den Nacken abbekommen. Doch obwohl er bewußtlos war, fiel er nicht einfach zu Boden, da sich am Ende des zum Zentralzylinder führenden Samtseils so viele Menschen drängten und um einen Platz kämpften.
»Hier ist das Band«, verkündete Hurtha fröhlich und hielt es außerhalb der Reichweite vieler zugreifender Hände. »Binde dich damit am Seil fest.«
»Der Mann hat möglicherweise seit gestern in der Schlange gewartet«, gab ich zu bedenken.
»Schon möglich«, meinte Hurtha und hielt mir das Band hin. Ich nahm es, wickelte es mir um Schulter und Taille und band es an dem Samtseil fest. Ein kräftig ausgeführter Ellbogenstoß Hurthas entmutigte einen Burschen, nach dem Band zu greifen. Ich weiß nicht, wovon er getroffen zu sein glaubte. Zwei andere Männer wichen zurück. Ich winkte ihnen zu. »Weitergehen!« befahl ein Taurentianer. Wir rückten auf.
»Alle Bänder sind weg!« stöhnte ein Mann.
»Weg!« schluchzte eine Frau.
Ein Mann trat von der Seite auf mich zu. »Bist du Bürger von Ar?« fragte er hochmütig.
»Warum?« fragte ich mißtrauisch.
»Am Tag der Großzügigkeit und der Bittsteller ist es allein Bürgern von Ar erlaubt, vor den Regenten zu treten«, erklärte er. »Der Feiertag ist nur für die Bürger gedacht. Glaubst du, wir wollen, das Schurken aus einem Umkreis von Tausenden von Pasang herbeiströmen und uns die Plätze stehlen?«
»Wohl kaum«, entgegnete ich.
»Ich glaube nicht, daß du aus Ar kommst!« sagte er. »Gib mir dein Band!«
»Ich möchte es aber behalten.«
»Wache!« rief er. »Wache!« Er verstummte blitzartig, als er im Nacken gepackt und hochgestemmt wurde.
»Weiß du, wie die Alar eine Zunge herausschneiden?« fragte Hurtha.
»Nein!« stieß der Bürger ächzend hervor.
»Das macht man mit einer Axt – von hinten durch den Nacken.«
»Das wußte ich nicht«, flüsterte er, während er in der Luft baumelte.
»Und zwar mit einer solchen Axt«, erklärte Hurtha und hielt dem Mann die breite Klinge vors Gesicht. »Hast du verstanden?«
»Das habe ich, das habe ich!«
»Du wolltest mit einem Wächter sprechen?« fragte der Alar. »Da hinten steht einer.«
»Warum sollte ich das tun?« krächzte der Mann.
»Ich weiß es nicht«, sagte Hurtha.
»Ich auch nicht!«
Hurtha ließ den Mann zu Boden fallen; der eilte davon.
»Das könnte zum Problem werden«, meinte ich zu Hurtha. »Ich bin kein Bürger Ars.«
»Woher sollen sie das wissen?« fragte er. »Mußt du den Heimstein in deiner Gürteltasche mit dir herumtragen?«
»Es könnte schwierig werden.«
»Du kannst immer noch nach den genauen Regeln fragen, nachdem du dem Regenten begegnet bist.«
»Das stimmt«, mußte ich ihm zugestehen.
»Was sollen sie dir schon antun?«
»Da gäbe es einiges.«
»Selbst in siedendes Öl können sie dich nur einmal werfen«, tröstete mich Hurtha.
»Auch wieder wahr«, erwiderte ich. Doch ein unbehagliches Gefühl blieb.
»Die einzige Schmach, die du ernsthaft fürchten mußt, ist der Verlust deiner Ehre!«
»Vermutlich hast du recht«, sagte ich. »Trotzdem würde ich es gern vermeiden, in siedendem Öl gekocht zu werden.«
»Das verstehe ich«, sagte Hurtha. »Es wäre außerordentlich schmerzhaft.«
»Hör auf zu drängeln!« ermahnte ich den Mann hinter mir.
»Du könntest singen«, schlug Hurtha vor.
»Was?«
»Das hat den Legenden der Alar zufolge Häuptling Hendix getan, als seine Feinde ihn gefangennahmen und in Öl warfen. Er hat sie angebrüllt, sie ausgelacht und sie dabei die ganze Zeit über beleidigt. Und während er dann kochte, hat er fröhliche Lieder der Alar gesungen. Auf diese Weise hat er seinen Feinden seine Verachtung gezeigt.«
»Vermutlich hat er gegen Ende den Ton nicht mehr richtig gehalten«, meinte ich.