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Sie zwang sich, ihre Hand bis ganz nach unten in seine Hosentasche zu schieben, und hastig sammelte sie mit den Fingern das Sammelsurium kleiner Gegenstände zusammen. Es war grauenhaft für sie, dabei auch das kalte, tote Fleisch zu spüren. Schließlich zog sie den gesamten Tascheninhalt in ihrer geschlossenen Hand heraus. In der aufkommenden Dunkelheit beugte sie sich darüber und öffnete die Finger um einen Blick darauf zu werfen.

Ganz zuoberst lagen ein Feuerstein, einige beinerne Knöpfe, ein kleines Bündel Zwirn sowie ein gefaltetes Taschentuch. Sie schob Zwirn und Taschentuch mit einem Finger zur Seite und legte eine nicht unbeträchtliche Anhäufung von Münzen frei – Silber und Gold. Der Anblick dieses Schatzes ließ sie einen leisen Pfiff ausstoßen. In ihren Augen waren Soldaten alles andere als reich, dieser Mann jedoch besaß fünf Goldtaler sowie eine größere Menge Silbermünzen, für nahezu jeden ein Riesenvermögen. Die Anzahl der Silberpfennige – Silber, und nicht etwa Kupfer – schien im Vergleich dazu beinahe unbedeutend, obwohl sie allein wahrscheinlich einen größeren Betrag darstellten, als sie in all den zwanzig Jahren ihres Lebens ausgegeben hatte.

Einen Talisman von einer Frau, der ihre Besorgnis, welche Art Mann er gewesen sein mochte, hätte mildern können, fand sie entgegen ihrer Hoffnung nicht; bedauerlicherweise verriet ihr überhaupt nichts in seinen Taschen etwas über seine Identität. Sie rümpfte unwillkürlich die Nase, als sie daranging, ihm seine Habe in die Tasche zurückzustopfen. Einige Silberpfennige fielen ihr dabei aus der geschlossenen Hand, doch sie sammelte sie ausnahmslos vom feuchten, hart gefrorenen Boden auf und zwängte ihre Hand abermals in seine Tasche, um sie wieder an ihren ordnungsgemäßen Platz zu legen.

Sein Rucksack hätte ihr vielleicht mehr verraten können, doch da er mit dem ganzen Körper darauf lag, war sie unschlüssig, ob sie tatsächlich versuchen sollte, einen Blick hineinzuwerfen; vermutlich enthielt er ohnehin nur Vorräte. Alles, was er für wertvoll gehalten hatte, hatte sich wohl in seinen Hosentaschen befunden.

Wie das Stück Papier.

Vermutlich lagen bereits alle Beweise, die sie wirklich brauchte, deutlich sichtbar vor ihr. Unter seinem dunklen Umhang und Waffenrock trug er eine steife Lederrüstung. An seiner Hüfte, in einer sehr schlichten, abgewetzten schwarzen Lederscheide, befand sich ein einfaches, jedoch robust gearbeitetes und gefährlich scharf geschliffenes Soldatenschwert; das Schwert war – zweifellos bei dem tiefen, unkontrollierten Sturz des Mannes vom Pfad – in der Mitte durchgebrochen.

Sie ließ den Blick etwas genauer über das ungewöhnliche Messer wandern, das in der Scheide an seinem Gürtel steckte. Sein Heft schimmerte matt im Dämmerlicht, und es hatte ihre Aufmerksamkeit gleich vom ersten Moment an gefesselt, der Anblick hatte sie geradezu erstarren lassen. Kein einfacher Soldat besaß ein so vorzüglich gearbeitetes Messer, da war sie völlig sicher. Es war unbestreitbar das kostbarste Messer, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Auf dem silbernen Heft befand sich ein mit überladenen Verzierungen versehener Buchstabe, ein ›R‹, dennoch war es ein Gegenstand von außerordentlicher Schönheit.

Ihre Mutter hatte ihr den Umgang mit Messern von Kindesbeinen an beigebracht, deshalb wünschte sie sich, ihre Mutter besäße ebenfalls ein so edles Messer wie dieses hier.

Jennsen.

Das leise, geflüsterte Wort ließ Jennsen auffahren.

Nicht jetzt. Gütige Seelen, nur jetzt nicht. Nicht hier.

Jennsen.

Es gab nicht viel, das ihr zeit ihres Lebens verhaßt war, doch diese Stimme, die sie gelegentlich heimsuchte, haßte sie von ganzem Herzen.

Wie stets, so ignorierte sie sie auch jetzt und zwang sich, ihre Finger zu bewegen und herauszufinden, ob da noch etwas anderes war, das sie über diesen Mann wissen sollte. Sie untersuchte die Lederriemen auf Geheimtaschen, konnte aber keine entdecken; der Waffenrock war von schlichtem Zuschnitt und besaß keine Taschen.

Jennsen, ließ sich die Stimme abermals vernehmen.

Sie biß die Zähne aufeinander. »Laß mich in Frieden«, sagte sie deutlich hörbar, wenn auch mit leiser Stimme.

Jennsen.

Diesmal klang es anders, fast so, als befände sich die Stimme gar nicht in ihrem Kopf, wie sonst immer.

»Als mich in Ruhe«, brummte sie unwirsch.

Gib dich hin.

Sie sah auf und blickte in die leblosen, starren Augen des Soldaten.

Der erste Schleier kalten Regens wogte im Wind. Es fühlte sich an, als ob die Seelen der Verstorbenen ihr mit eisigen Fingern über das Gesicht strichen.

Ihr Herz begann noch schneller zu rasen, und ihr hastiger, unregelmäßiger Atem geriet ins Stocken – wie Seide, die an einem Stückchen trockener Haut hängen bleibt. Die weit aufgerissenen Augen fest auf das Gesicht des Toten geheftet, krabbelte sie, sich mit den Füßen abstoßend, rücklings über das Geröll.

Albern benahm sie sich, dessen war sie sich vollkommen bewußt. Der Mann war doch tot! Er sah sie nicht an, dazu war er überhaupt nicht fähig. Sein unnachgiebiger Blick war im Tod erstarrt, genau wie bei den toten Fischen, die sie geangelt hatte.

Jennsen.

Jenseits der Leiche, oberhalb des steilen Abhangs aus Granitgestein, wiegten sich die Föhren sacht im Wind, und die kahlen Ahornbäume und Eichen schwenkten ihr knorriges Geäst. Jennsen lauschte angespannt auf die Stimme. Die Lippen des Mannes bewegten sich nicht, sie wußte, daß sie sich nicht bewegten. Die Stimme kam aus ihrem Kopf.

Er hatte das Gesicht noch immer dem Pfad zugewandt, von dem aus er in den Tod gestürzt war. Anfangs hatte sie gedacht, sein lebloser Blick sei ebenfalls in diese Richtung gedreht gewesen, jetzt aber schienen sich seine Augen ein wenig mehr ihr zugewandt zu haben.

Jennsen schloß die Finger um das Heft ihres Messers.

Jennsen.

»Laß mich in Frieden. Ich denke nicht daran, mich hinzugeben.«

Nie wußte sie, was genau die Stimme meinte; obwohl sie sie schon fast ihr ganzes Leben lang begleitete, hatte sie sich nie naher darüber ausgelassen. Jennsen flüchtete sich in diese Zweideutigkeit.

Wie als Antwort auf ihren Gedanken, ließ sich die Stimme abermals vernehmen.

Gib dein Fleisch hin, Jennsen.

Jennsen stockte der Atem.

Gib deinen Willen hin.

Sie mußte vor Entsetzen schlucken. Das hatte sie noch nie gesagt – nie zuvor hatte die Stimme etwas gesagt, das für sie irgendeinen Sinn ergab.

Oft hörte sie sie nur ganz schwach – so als wäre sie zu weit entfernt, um sie klar und deutlich zu verstehen; mitunter glaubte sie einzelne Worte unterscheiden zu können, die jedoch einer fremden Sprache zu entstammen schienen.

Die Flüsterstimme sprach auch noch mit anderen Worten zu ihr, nie jedoch so, daß sie mehr verstand als ihren Namen und die beängstigend verlockende, aus einem kurzen Satz bestehende Aufforderung, sich hinzugeben. Dieser kurze Satz klang jedes Mal eindringlicher als alles andere, und sie hörte ihn stets heraus, selbst wenn die restlichen Worte unverständlich blieben.

Ihre Mutter behauptete, die Stimme gehöre dem Mann, der Jennsen schon fast ihr ganzes Leben lang umzubringen versuchte; sie meinte, er wolle sie damit quälen.

»Jenn«, sagte ihre Mutter dann für gewöhnlich, »es ist alles in Ordnung, ich bin ja bei dir. Seine Stimme kann dir nichts anhaben.« Um ihre Mutter nicht zu beunruhigen, erzählte sie ihr oft gar nichts von der Stimme.

Aber auch wenn diese Stimme ihr nichts anhaben konnte – der Mann konnte es, wenn er sie fand. Plötzlich sehnte sich Jennsen nach den beschützenden, tröstenden Armen ihrer Mutter.

Eines Tages würde er sie holen kommen, darüber waren sie sich beide im Klaren; bis dahin schickte er seine Stimme vor. Das zumindest glaubte ihre Mutter.

So beängstigend sie diese Erklärung auch fand, war sie Jennsen doch allemal lieber, als an ihrem Verstand zweifeln zu müssen, denn ohne diesen besäße sie gar nichts mehr.