Als sie die Haut des Mannes berührte, breitete sich ein seltsames, prickelndes Gefühl in ihren Händen aus. Sie fühlte sich kalt und glatt an, kaum wie menschliche Haut, sondern eher wie Kunststoff oder Glas. Sie mußte sich überwinden, die Hand nicht sofort angewidert wieder zurückzuziehen.
»Sehen Sie!« keifte der Alte. »Ich hab's ja gesagt, der Mann ist verletzt! Und Sie sind schuld!«
Vivian lehnte den Verletzten behutsam gegen den Wagen und überzeugte sich davon, daß er aus eigener Kraft stehen konnte, ehe sie sich betont langsam umdrehte. Sie wußte nicht, was der Alte mit seinem Auftritt bezweckte, aber er ging auf alle Fälle entschieden zu weit.
Die Straße hinter ihr war leer, als sie sich umdrehte. Vivian runzelte verblüfft die Stirn, sah hastig nach rechts und links und hielt nach dem alten Mann Ausschau. Er war verschwunden.
»Aber das ist doch unmöglich«, flüsterte sie fassungslos. Die wenigen Sekunden, die sie den Alten aus den Augen gelassen hatte, waren viel zu kurz gewesen, als daß ein Mensch spurlos verschwinden konnte. Plötzlich spürte sie eine seltsame, unerklärliche Kälte, so als würde sie von einem eisigen Windstoß getroffen. Aber es war völlig windstill. Sie schauderte und drehte sich erneut um; der Verletzte war ebenfalls verschwunden. Sie hatte allerhöchstens vier, fünf Sekunden nach dem Alten Ausschau gehalten. Mit seinem verletzten Bein konnte der Mann in dieser Zeit unmöglich weiter als ein paar Schritte weit gekommen sein. Aber die Straße war zu beiden Seiten leer, und das einzige Gebäude, das er in den wenigen Augenblicken erreicht haben konnte, war das Hotel.
Vivian eilte mit raschen Schritten auf den Hoteleingang zu. Mark kam ihr entgegen, als sie das Foyer betrat. »Ist er hier?« fragte sie übergangslos.
»Wer?«
»Der Mann, den ich angefahren habe«, entgegnete Vivian ungeduldig. »Er ist verschwunden.«
»Verschwunden?« wiederholte Mark. »Was heißt das?«
»Verschwunden«, sagte Vivian gereizt. »Weg. Nicht mehr da. Ich hatte mich einen Augenblick umgedreht, um mit diesem komischen Alten zu reden. Als ich wieder hinsah, war er weg. Aber er kann mit seinem verletzten Bein unmöglich weiter als ein paar Schritte gelaufen sein. Ich dachte, er wäre vielleicht hier.«
Mark schüttelte den Kopf. »Ich habe die ganze Zeit dort drüben beim Portier gestanden und den Ausgang nicht aus den Augen gelassen.« Er lachte kurz und humorlos. »Die beiden sauberen Herren werden sich aus dem Staub gemacht haben. Wahrscheinlich haben sie gemerkt, daß sie mit ihrem Trick an die Falschen geraten sind.«
»Was für ein Trick?«
»Er ist nicht gerade neu, aber es gibt einige Gauner, die versuchen es immer wieder. Und es gibt noch genügend Dumme, die darauf hereinfallen. Diese Burschen arbeiten meist zu zweit. Einer springt vor einen Wagen und mimt den Verletzten, der andere tritt als zufällig anwesender Zeuge auf und beschwört, daß der arme Mann wirklich unschuldig an dem Unfall sei. Der Verletzte ist schließlich bereit, sich mit einer Entschädigung abzufinden, und der Fahrer zahlt, um unerwünschtes Aufsehen zu vermeiden.« Er grinste. »Aber sie haben wohl erkannt, daß die Masche diesmal nicht zieht. Die beiden konnten es sich nicht leisten, auf die Polizei zu warten.«
Vivian nickte widerwillig. Marks Worte klangen logisch und überzeugend, dennoch sträubte sie sich dagegen, die Erklärung zu akzeptieren. Mit den beiden hatte irgend etwas zweifelsohne nicht gestimmt, aber sie glaubte einfach nicht daran, daß es sich nur um zwei geschickte Trickbetrüger gehandelt hatte. Und da war noch ein Gedanke, der sich in ihrem Bewußtsein einnistete. Je genauer sie sich die Szene ins Gedächtnis rief, desto sicherer war sie, daß die Straße hinter dem Wagen leer gewesen war, als sie in den Spiegel gesehen hatte.
Mark drückte sie in die Polster eines Ledersessels. »Warte hier. Die Polizei wird bald kommen. Ich parke in der Zwischenzeit den Wagen richtig, bevor es womöglich noch einen weiteren Unfall gibt.«
Vivian nickte, und er verließ das Hotel. Kaum eine Minute später kehrte er zurück, und kurz darauf betrat auch ein Polizist das Foyer, der sich als Lieutenant Beramo vorstellte. Vivian erzählte ihm in knappen Worten, was passiert war, und Mark machte einige ergänzende Bemerkungen. Beramo kritzelte etwas auf seinen Block, schüttelte den Kopf und steckte seinen Kugelschreiber zurück. »Ich glaube«, sagte er nach kurzem Überlegen, »daß Ihr Mann recht hat.« Er klappte seinen Notizblock zu und schenkte Vivian ein scheues Lächeln. »Wahrscheinlich haben die beiden wirklich versucht, Sie hereinzulegen. Ein uralter Trick. Ich bin nur froh, daß Sie nicht darauf hereingefallen sind und ihnen Geld gegeben haben.«
Vivian erwiderte seinen Blick gelassen. Sie hatte keine Lust, länger als unbedingt nötig über den Vorfall zu sprechen. Ihrer Meinung nach wäre es nicht nötig gewesen, überhaupt die Polizei einzuschalten, und sie mußte sich Mühe geben, ihre Verärgerung darüber nicht an dem jungen Beamten auszulassen. »Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte sie nach einer Weile, »wäre es mir am liebsten, wenn wir die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen würden.«
»Soll das heißen, daß Sie keine Strafanzeige erstatten wollen?«
Vivian schüttelte den Kopf. »Gegen wen denn? Und weswegen? Ich wüßte kein Gesetz, nach dem sich ein Unfallopfer strafbar macht, wenn sie sich weigert, eine Entschädigung anzunehmen. Und mehr ist schließlich nicht passiert. Eventuelle Absichten können wir höchstens vermuten, aber nicht beweisen. Die beiden würden nicht einmal einen Anwalt brauchen, um sofort wieder freigelassen zu werden.«
»Es sei denn, es liegen schon weitere Anzeigen gegen sie vor. Dann würden die beiden sich nicht mehr herausreden können.«
»Falls Sie sie überhaupt finden sollten.«
»Die Chancen dafür stehen allerdings nicht besonders gut«, räumte Beramo ein. »Trotzdem wäre es einen Versuch wert.« Er wandte sich Mark zu. »Sie und Ihre Frau sind bedeutende Persönlichkeiten. Ich möchte nicht, daß Sie einen falschen Eindruck von unserem Land bekommen.«
»Keine Sorge.« Vivian lächelte und wechselte einen raschen Blick mit Mark. Er schwieg, konnte sich aber nur mühsam ein Grinsen verkneifen. »Gauner gibt es überall. Ich bin Ihnen für Ihre Bemühungen sehr dankbar, aber mehr ist wirklich nicht nötig.«
Beramo überlegte. Auf der einen Seite mochte er froh sein, die Angelegenheit so schnell erledigen zu können, anderseits widerstrebte es seinem Gerechtigkeitsempfinden. Schließlich zuckte er mit den Achseln und stand auf. »Wie Sie wünschen, Missis Taylor.« Er ging zur Tür und blieb zögernd stehen. »Wenn Sie Wert darauf legen, lasse ich zwei Beamte zu Ihrem Schutz abstellen.«
Vivian schüttelte erneut den Kopf. Sie konnte sich Angenehmeres vorstellen, als Tag und Nacht von zwei Polizisten begleitet zu werden, und alles nur, weil zwei kleine Ganoven sie um ein paar Dollar zu betrügen versucht hatten. »Das ist wirklich nicht nötig«, erklärte sie mit Entschiedenheit. »Mein Mann und ich werden voraussichtlich ohnehin morgen oder spätestens übermorgen abreisen.«
»Ist das auch Ihre Meinung, Mister Taylor? Sie sollten sich das Angebot überlegen.«
Mark nickte. »Wir wissen Ihre Hilfe zu schätzen, Lieutenant«, sagte er. »Aber ich schließe mich der Meinung meiner Frau an.«
Beramo trat noch einen Moment unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. »Also gut, dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt.« Er verabschiedete sich und verließ das Hotel.
»Polizeischutz«, murmelte Vivian kopfschüttelnd, während sie mit Mark zum Fahrstuhl ging. »Kommt überhaupt nicht in Frage.«