Bender schaute sie fragend an. »Sie glauben, es war wirklich ein Unfall?«
Vivian schüttelte den Kopf. »Nein, ein Trick, um nahe an mich heranzukommen und mich zu bestehlen«, erklärte sie. »Man hat mir eine Kette mit einem Medaillon gestohlen. Leider habe ich es erst später gemerkt, als Lieutenant Beramo schon wieder fort war. Das Schmuckstück ist zwar nicht besonders kostbar, aber es ist ... eine Art Andenken.«
Bender machte ein bedauerndes Gesicht. »Das tut mir leid. Ich werde mich darum kümmern. Eine Beschreibung der Täter haben wir ja bereits von Ihnen. Können Sie mir noch sagen, wie das Medaillon aussah?«
Vivian beschrieb es mit knappen Worten.
»Nun, das ist ein etwas ausgefallenes Schmuckstück, das zu finden sein dürfte. Ich werde einige meiner besten Leute auf den Fall ansetzen. Sie werden Ihr Schmuckstück zurückbekommen, das verspreche ich Ihnen.«
Vivian musterte ihn überrascht. »So viel Aufwand wegen einer gestohlenen Kette?«
Bender zuckte mit den Achseln. »New York ist eine Weltstadt«, sagte er trocken. »Wir können es nicht zulassen, daß unsere Gäste auf offener Straße bestohlen werden.« Erst nach ein paar Sekunden merkte Vivian, daß es ein sarkastischer Satz war. New York und Straßendiebstähle gehörten zusammen wie der Klingelbeutel und die Kirche. »Aber machen Sie sich jetzt keine Sorgen mehr um Ihr Medaillon. Genießen Sie das Fest.« Er winkte einen der zahllosen Kellner zu sich. »Bringen Sie unseren Gästen etwas zu trinken.«
Vivian begann sich zunehmend unbehaglicher zu fühlen. Sie hatte diese großen, von künstlicher Fröhlichkeit bestimmten Cocktailpartys niemals gemocht, und der Verlust ihres Amuletts stimmte sie nicht gerade fröhlicher. Sie war sich noch nicht ganz sicher, was der Raub zu bedeuten hatte. Alles deutete auf einen ganz normalen Diebstahl hin, aber jeder auch nur halbwegs geschickte Gauner hätte auf Anhieb erkennen müssen, daß das Schmuckstück nicht einmal annähernd so viel einbringen würde wie etwa das goldene, mit Brillanten besetzte Armband, das sie am Nachmittag ebenfalls getragen hatte. Trotzdem hatten die beiden Diebe sich nur mit der relativ wertlosen Kette begnügt. Dazu kamen die sonderbaren Begleitumstände, die Tatsache, daß sie den Mann im Spiegel nicht gesehen hatte, sowie die übrigen Ereignisse der letzten Zeit; die allnächtliche Wiederkehr des Alptraums, das Orakel der Karten, die Seance. Zu diesem Zeitpunkt war sie angespannt, übermüdet und von Angst erfüllt gewesen, so daß es möglich war, daß ihr Unterbewußtsein mit den Belastungen nicht mehr fertig geworden war.
Vivian glaubte jedoch nicht daran. Sie hatte ihre okkulte Begabung akzeptiert und sich seit vielen Jahren schon daran gewöhnt, dennoch war sie ihr zum größten Teil immer fremd geblieben - und auch ein wenig furchteinflößend. Aber daß ihre Fähigkeiten, die im Grunde nur ein Talent darstellten, wie andere Leute es zum Malen oder Schreiben hatten, eine selbständige Persönlichkeit entwickeln und gegen sie rebellieren könnten, war absurd. Abgesehen von dem Vorfall bei der Seance hatte sie noch nie irgendwelche Anzeichen von Bewußtseinsspaltung verspürt.
Dennoch - diese Häufung von sonderbaren Ereignissen in der letzten Zeit konnte kaum noch ein Zufall sein. Irgend etwas Unheimliches ging in dieser Stadt vor, und obwohl sie noch nicht einmal in Ansätzen wußte, um was es sich handelte, war sie irgendwie darin verwickelt.
Sie schmiegte sich dichter an Mark und versuchte, die Menschenmenge zu überblicken; ein Unternehmen, das fast aussichtslos erschien. Grob geschätzt befanden sich mindestens zweihundertfünfzig bis dreihundert Personen in dem weiten, in barockem Stil eingerichteten Ballsaal. Bürgermeister Conelly schien alles eingeladen zu haben, was in der Stadt Rang und Namen hatte. Soweit Vivian sehen konnte, war sie unter den Gästen mit Abstand die Jüngste. Die meisten anwesenden Männer und Frauen waren mindestens doppelt so alt wie sie, und zumindest die Frauen hatten sich nach Kräften bemüht, ihr Alter unter Tonnen von Make-up zu verbergen. Mit der hier aufgetragenen Schminke allein hätte man mühelos eine Parfümerie eröffnen können - so wie man problemlos die Auslagen mehrerer Juweliere mit dem hier zur Schau gestellten Schmuck füllen konnte.
Obwohl es noch relativ früh war, hatten sich bereits überall die auf Partys berüchtigten Gruppen und Grüppchen gebildet; kleine, meist aus zwei bis sechs Personen bestehende Pulks von Leuten, die sich an ihren Drinks festklammerten und miteinander redeten. Auf einer Empore im Hintergrund des Ballsaales kämpfte eine Big Band vergeblich gegen den Lärm an, den eine solche Menschenmenge verursachte. Livrierte Kellner und Dienstboten flitzten wie ein Schwarm kleiner geschäftiger Fische durch die Menschenmenge, Tabletts mit Gläsern und kleinen Appetithappen über dem Kopf oder vor sich hin balancierend. Die Südseite des riesigen Saales wurde von einer scheinbar endlosen Tafel beherrscht, an der Köche mit hohen, weißen Mützen damit beschäftigt waren, dem kalten Bufett den letzten Schliff zu geben.
»Für eine Stadt, die seit Jahren am Rande des Ruins dahinstolpert, ein ziemlich großer Aufwand«, murmelte Vivian.
Bender drehte sich um und grinste. Offenbar hatte er die geflüsterten Worte trotz des Lärms gehört. »Ich kann Sie beruhigen, Missis Taylor«, sagte er. »Dies hier geht nicht auf Kosten des Steuerzahlers. Bürgermeister Conelly zahlt das Fest aus eigener Tasche. Immerhin feiert er heute sein zehntes Dienstjubiläum.«
Der Kellner kam mit den bestellten Getränken und rettete Vivian davor, sich eine schlagfertige Entschuldigung einfallen zu lassen.
»Kommen Sie«, sagte Bender. »Ich stelle Sie dem Bürgermeister vor.« Er drehte sich um und bahnte sich und seinen Begleitern eine Gasse durch die Menschenmenge.
»Hast du eine Ahnung, wie lange die Party dauert?« flüsterte Vivian.
Mark lächelte. »Sie hat ja noch nicht einmal angefangen«, sagte er. »Schon keine Lust mehr?«
»Die hatte ich schon nicht, bevor wir gekommen sind.«
»Wir brauchen ja nicht die ganze Nacht zu bleiben. Aber zwei, drei Stunden müssen wir schon aushalten, das wirst du wohl schaffen. Sonst bist du doch auch gern auf Parties.«
»Schon, aber im Moment ...« Vivian sprach nicht weiter. Das seltsame Unbehagen, das von ihr Besitz ergriffen hatte, schien sich mit jeder Minute zu verstärken. Vielleicht, versuchte sie sich einzureden, lag es wirklich nur am Verlust ihres Amuletts. Sie kam sich irgendwie nackt und verwundbar vor. Aber sie wußte, daß sie sich nur etwas vormachte, wenn sie alles darauf schob. Das Unbehagen war ein Warnsignal, das bei ihr weit über normale Intuition hinausreichte. Nachdenklich betrachtete sie Benders Rücken. Die seltsame Kühle seiner Haut fiel ihr wieder ein - so ähnlich hatte sich die Hand des Diebes angefühlt. Kalt, glatt und irgendwie künstlich.
Vivian schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie fing schon an, Gespenster zu sehen, wenn sie jeden verdächtigte, der eine kühle Hand hatte.
»Mister Taylor!« ertönte ein Ruf nicht weit von ihnen entfernt, bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte. Bürgermeister Howard Conelly, den sie bereits von Zeitungsfotos her kannte, drückte einem der geschäftig herumflitzenden Dienstboten sein Glas in die Hand und kam mit langen Schritten auf Mark und Vivian zu. »Wie schön, daß Sie gekommen sind.« Er grüßte Bender mit einem knappen Kopfnicken und schüttelte Mark die Hand, dann begrüßte er auch Vivian. »Und Sie sind sicher Missis Taylor?«
Vivian nickte. Gleich darauf trat ein distinguiert aussehender Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, einem energischen, kantigen Kinn und streng gescheiteltem grauen Haar zu ihnen, den Mark ihr als Jonathan Masterton vorstellte. Erneut wurden Hände geschüttelt. Masterton entsprach ziemlich genau der Beschreibung, die Mark ihr von ihm gegeben hatte. Nachdem sie ihn nun persönlich kannte, konnte sich Vivian gut vorstellen, daß Masterton ein äußerst zäher Verhandlungspartner war.