Vivian lächelte verlegen. »Wir kennen uns doch gar nicht.«
»Aber er hat von Ihnen gehört.« Sie blieb stehen und sah sich um. »Ist Ihr Mann nicht mitgekommen?«
Vivian nickte. »Doch. Aber ich fürchte, wir haben uns aus den Augen verloren.« Sie entdeckte Mark und Masterton bei einer Gruppe am anderen Ende des Saales und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, zu Mark zu eilen und ihm ihre Entdeckung mitzuteilen.
Zuerst mußte sie Missis Conelly auf diplomatische Weise loswerden. Auch im liberalen Amerika gehörte es sicherlich nicht gerade zum guten Ton, festzustellen, daß mit vier der wichtigsten Gäste auf einem offiziellen Empfang irgend etwas nicht zu stimmen schien.
Sie verließen den Saal und gingen durch einen langen, von kostbaren Wandleuchtern erhellten Korridor. Vivians Blicke tasteten über die kostbaren Seidentapeten und blieben an einem kaum sichtbaren rechteckigen Fleck hängen.
Susan Conelly lächelte entschuldigend, als sie den fragenden Ausdruck in Vivians Gesicht bemerkte. »Es sieht nicht sehr hübsch aus, ich weiß«, sagte sie bedauernd. »Ist es bei Ihnen drüben in England auch so schlimm mit den Handwerkern?«
Vivian sah ihre Gastgeberin fragend an.
»Schrecklich, meine Liebe«, fuhr Susan kopfschüttelnd fort. »Ob Sie es glauben oder nicht - Sie werden im ganzen Haus keinen Spiegel finden. Vorgestern hat Howard die Handwerker beauftragt, sie zu erneuern, weil sie vereinzelt anliefen oder bereits blinde Flecken hatten. Man hat uns hoch und heilig versprochen, daß wir die Spiegel bis heute nachmittag wiederbekämen, aber dann hat man uns hängenlassen.« Sie blieb stehen und deutete auf eine Tür. »Wir sind da. Dort ist das Gästebad.«
Vivian nickte und betrat den Raum. Helles, blendfreies Licht flammte bei ihrem Eintreten automatisch auf und tauchte den Raum in schattenlose Helligkeit. Sie trat an eins der beiden schweren, aus weißem Marmor gearbeiteten Handwaschbecken an der Wand, drehte an den vergoldeten Armaturen und ließ sich etwas kaltes Wasser über die Hände laufen.
Sie bedauerte, daß es keine Spiegel gab, sie hätte gerne noch ihre Frisur in Ordnung gebracht. Auch über den Waschbecken zeichneten noch dunkle Konturen die Stelle nach, an der sie ursprünglich gehangen hatten.
Spiegel ...
Wieder mußte sie daran denken, daß sie den Mann, den sie vor dem Hotel angefahren hatte, nicht im Rückspiegel ihres Wagens gesehen hatte. Dazu dann die sonderbare Art, wie sich die Hände des Verletzten und des Polizeichefs angefühlt hatten. Beide so kühl und glatt, fast wie Glas. Und nun gab es in diesem ganzen Haus keine Spiegel.
Es war eine verrückt geknüpfte Assoziationskette, die einer logischen Betrachtung kaum standhielt, und dennoch war Vivian plötzlich davon überzeugt, daß alle diese Faktoren miteinander in Verbindung standen. Aber sie wußte nur, daß es allem Anschein nach irgend etwas mit Spiegeln zu tun hatte.
Sie mußte unbedingt mit Mark darüber sprechen. Er war der einzige, er ihr glauben würde. Abrupt drehte Vivian sich um und verließ das Bad wieder.
»Ich möchte wissen, wo Vivian steckt«, sagte Mark halblaut.
Jonathan Masterton machte eine unbestimmte Kopfbewegung nach rechts. »Ich glaube, Conelly hat sie abgeschleppt.« Er grinste. »Sie sollten sich vorsehen, Mark. Vivian ist eine sehr schöne Frau, und Conelly ist als Möchtegern-Casanova berüchtigt. Ich weiß, warum ich meine Frau nicht mitgebracht habe.«
Mark lächelte. »Ich glaube kaum, daß ich mir in dieser Hinsicht bei Vivian Sorgen machen muß.«
Masterton erwiderte das Lächeln. »Wenn ich ehrlich sein soll, hatte Amy auch einfach keine Lust, hierherzukommen.« Er leerte sein Glas und blickte verlangend zum kalten Bufett hinüber. »Der Abend scheint ja wenigstens eine gute Seite zu haben.«
Mark nickte. Er hatte bis jetzt zwei oder drei Whisky getrunken und konnte ebenfalls einen Happen vertragen. Es war immer dasselbe auf diesen Partys - Dutzende von Leuten drängten einem Drinks auf und waren tödlich beleidigt, wenn man ablehnte. Das Ergebnis war dann meistens, daß man viel zuviel trank und am nächsten Morgen mit einem Kater aufwachte. »Gut, kommen Sie.« Er versetzte Masterton einen freundschaftlichen Rippenstoß und schlenderte auf die Tafel zu. Das Küchenpersonal schien mit den Vorbereitungen noch nicht ganz fertig zu sein, was aber eine ganze Anzahl Gäste nicht daran hinderte, schon zuzugreifen.
»Wenigstens sind wir nicht die ersten«, sagte Masterton grinsend. Mark konnte sich kaum vorstellen, daß es sich um den gleichen Menschen wie den knallharten Geschäftsmann handelte, mit dem er fast den ganzen Tag über verhandelt hatte. Es schien, als wäre Masterton privat in eine völlig neue Haut geschlüpft, erwies sich als locker und umgänglich. Mark hätte nicht gedacht, daß er jemals für jemanden wie ihn Sympathie empfinden könnte, aber obwohl sie nur ein paar Minuten miteinander geplaudert hatten, begannen sie bereits, sich anzufreunden. Masterton angelte sich einen Teller vom Stapel, musterte die aufgefahrenen Spezialitäten mit Kennerblick und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Conelly scheint ein Gourmet zu sein«, sagte er leise. »Wenn er das wirklich alles aus eigener Tasche bezahlt, muß er entweder ein fürstliches Gehalt beziehen oder eine Menge krummer Geschäfte nebenbei betreiben.«
»Oder einen gewaltigen Kredit haben«, versetzte Mark.
Masterton grinste und lud sich seinen Teller voll. »Greifen Sie zu, Mark«, sagte er, »bevor die besten Sachen weg sind.« Er nahm eine Gabel voll Kaviar und verzog anerkennend das Gesicht. »Köstlich.«
Mark griff ebenfalls nach einem Teller. Das Licht der Kristallüster brach sich auf dem polierten Porzellan und schuf ein verwirrendes Muster aus Gold und Weiß. Mark spielte einen Augenblick mit dem Teller herum und musterte unentschlossen das Bufett. In dem weißen Porzellan spiegelten sich die Gestalten der hinter ihm stehenden Partygäste.
Irgend etwas stimmte mit dem Bild nicht.
Mark runzelte die Stirn, drehte sich um und musterte die hinter ihm stehende Gruppe unauffällig. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches festzustellen - es war eine der üblichen Partygruppen: Vier Männer im eleganten Smoking, die von der gleichen Anzahl Frauen flankiert wurden und sich unterhielten. Erst als Mark sich wieder umdrehte und den Teller ein zweites Mal als Spiegel benutzte, wurde ihm der Unterschied klar.
Zwei der vier Männer besaßen kein Spiegelbild.
Jonathan Masterton ließ seine Gabel sinken und sah Mark mit plötzlicher Besorgnis an. Zwischen seinen Brauen erschien eine steile Falte. »Was haben Sie, Mark?« fragte er mit vollem Mund. »Sie sehen plötzlich aus, als ...«
Mark brachte ihn mit einer hastigen Bewegung zum Schweigen. Sein Blick hing wie gebannt an dem spiegelnden Porzellan in seinen Händen. Die vier Frauen in ihren langen, eleganten Abendkleidern waren deutlich darin zu erkennen, ebenso zwei der vier Männer. Aber die Plätze der beiden anderen waren leer. Er versuchte, sich über dem Lärm der Party auf die Stimmen der hinter ihm stehenden Leute zu konzentrieren. Er hörte die Stimme einer Frau, sah, wie ihr verkleinertes Spiegelbild vor ihm den Mund bewegte und - zu einer Stelle in der leeren Luft sprach.
Aber das ist unmöglich! dachte er entsetzt. Er hatte schon von allen möglichen Sinnestäuschungen und Halluzinationen gehört, aber daß ein Mensch kein Spiegelbild besaß -
Er bemerkte, wie Masterton besorgt um den Tisch herumkam und neben ihm stehenblieb. »Was haben Sie, Mark?« fragte er noch einmal, aber recht leise, um kein Aufsehen zu erregen. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«
»Genauso kommt es mir auch vor«, gab Mark fassungslos zurück. »Sehen Sie die Gruppe hinter uns?« fragte er, ohne sich umzudrehen.
Masterton wandte automatisch den Kopf und nickte. »Selbstverständlich. Warum?«