Vivian kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Der Mann sprang mit einem wütenden Knurren auf sie zu und versuchte sie zu Boden zu reißen. Sie taumelte unter dem Anprall des schweren Körpers zurück, wich seinem Fausthieb instinktiv aus und ließ den Angreifer über ihr vorgestrecktes Bein stolpern. Der Riese krachte schwer zu Boden. Vivian spürte instinktiv, daß sie dem Mann keine Chance geben durfte, wenn sie dieses Zimmer lebend verlassen wollte. Sie sprang zurück, atmete hörbar ein und ließ ihren Ellbogen mit vernichtender Wucht in den Nacken des Mannes krachen. Der Hüne stöhnte dumpf und brach ein zweites Mal zusammen. Es gab einen seltsamen, metallischen Ton, als sein Körper auf die Marmorfliesen krachte.
Von Kindheit an hatte Vivian viel Sport getrieben, und seit der Hochzeit mit Mark hatte sie auch begonnen, Kampfsport zu erlernen. Sie war nicht gerade das weibliche Gegenstück zu Chuck Norris geworden, aber sie beherrschte eine Reihe von Tricks, mit denen sie selbst Gegner, die ihr an Körpergewicht weit überlegen waren, außer Gefecht setzen konnte.
Aber diesmal blieb die erhoffte Wirkung aus.
Ungläubig sah Vivian, wie ihr Gegner ein drittes Mal auf die Füße kam und sich auf sie zu bewegte. Jeder normale Mensch wäre nach einem solchen Schlag für Stunden bewußtlos gewesen, aber dem Fremden schien die Attacke nicht sonderlich viel auszumachen.
»Sie sollten einsehen, daß Sie verloren haben, Missis Taylor«, sagte er leise. »Es ist vollkommen sinnlos, weiteren Widerstand zu leisten. Ihnen wird nichts geschehen.«
Vivian sprang mit einem wütenden Schrei auf ihn los, fegte seine zupackende Hand beiseite und schmetterte ihm die Handkante gegen die Halsschlagader. Ein dumpfer, betäubender Schmerz zuckte durch ihren Atem. Sie spürte, wie die Kraft, die sie in den Schlag legte, von ihrem Gegner abglitt. Der Mann lachte, griff mit einer blitzschnellen Bewegung nach ihrem Arm und schleuderte sie grob zu Boden.
Vivian rollte sich blitzschnell zur Seite. Neben ihr krachte der schwere Körper des Angreifers auf den Marmorfußboden. Eine Hand tastete nach ihr, versuchte sie zu packen und fetzte ein Stück Stoff aus ihrem Kleid. Schweratmend kam sie hoch und versuchte, die Tür zu erreichen, aber ihr Gegner reagierte mit übermenschlicher Schnelligkeit. Er sprang auf, hetzte hinter ihr her und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie.
Vivian wurde unter dem Angreifer regelrecht begraben. Instinktiv versuchte sie, dem Angreifer noch im Fallen das Knie in den Leib zu rammen, aber das einzige Ergebnis war ein dumpfer, lähmender Schmerz, der durch das Bein bis in die Hüfte hinaufschoß, und sie aufschreien ließ. Vivian hatte das Gefühl, unter einer niederstürzenden Marmorstatue begraben zu werden.
Der Unheimliche schien gegen Schmerzen völlig immun zu sein. Sein haßverzerrtes Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter über ihr. »Geben Sie endlich auf, Missis Taylor«, keuchte er. »Ich möchte Sie nicht verletzen.«
Vivian glaubte ihm kein Wort, sondern wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung. Sie bäumte sich auf, trat um sich und versuchte, den auf ihr hockenden Gegner abzuschütteln, aber ihre Bemühungen blieben erfolglos. Sie spürte, wie ihre Kräfte allmählich nachließen. Der Mann preßte sie mit übermenschlicher Kraft gegen den Boden. Seine riesigen Hände hatten sich wie Schraubstöcke um ihre Handgelenke geschlossen.
Ein dumpfer Schlag erschütterte die Tür.
Der Kopf des Angreifers ruckte herum. Für einen Sekundenbruchteil war er abgelenkt, und Vivian nutzte die Gelegenheit sofort aus. Sie zog blitzschnell die Knie an, rammte sie dem Mann gegen die Brust und schleuderte ihn mit letzter Kraft von sich.
Wieder wurde gegen die Tür geschlagen, und Vivian hörte Mastertons Stimme dumpf durch das Holz dringen. »Missis Taylor? Sind Sie dort drinnen?« Masterton unterstützte seine Worte mit ein paar kräftigen Hieben, die die Türfüllung erzittern ließen.
»Helfen Sie mir!« rief Vivian. Sie rappelte sich mühsam hoch, wich rückwärts gehend vor dem unheimlichen Angreifer zurück und sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch es gab keine. Der Raum besaß zwar zwei schmale, hohe Fenster, aber ganz davon abgesehen, daß ihr Gegner ihr sicher nicht die Zeit lassen würde, sie zu öffnen, befand sich das Zimmer im zweiten Stock. Sie stieß gegen ein Hindernis, tastete blind hinter sich und spürte Glas und Chrom unter ihren Fingern. Mit einer blitzschnellen, ansatzlosen Bewegung fuhr sie herum, riß den Teewagen hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Angreifer. Der Mann riß schützend die Arme vors Gesicht und wich zur Seite aus, aber seine Reaktion kam um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Vivians improvisiertes Wurfgeschoß riß ihn von den Beinen und ließ ihn in einem Hagel von zersplitterndem Glas niederstürzen.
Der Lärm schien auch draußen gehört worden zu sein. Die Tür erbebte plötzlich unter dem wuchtigen Anprall eines schweren Körpers. Holz splitterte, dann flog die gesamte Tür nach innen und krachte gegen die Wand, als Jonathan Masterton sich ein zweites Mal dagegenwarf. Er stolperte, von der Wucht seines eigenen Stoßes mitgerissen, ein paar Schritte weit ins Zimmer hinein und warf sich mit einem wütenden Knurren auf den Angreifer.
Der Mann wandte sich mit haßverzerrtem Gesicht seinem neuen Gegner zu, streckte die Arme aus und fand sich im nächsten Augenblick auf dem Rücken liegend wieder, als Masterton sich abduckte und ihm die Beine wegtrat.
»Passen Sie auf!« schrie Vivian. »Er ist gefährlich!«
Masterton schien ihre Worte gar nicht zu hören. Er wartete, bis der Fremde keuchend wieder hochgekommen war, griff dann mit überraschender Schnelligkeit nach dessen Rockaufschlägen und setzte zu einem perfekten Schulterwurf an. Der Riese wurde wie ein gewichtsloses Spielzeug durch die Luft gewirbelt und landete keuchend auf einem Sofa, das unter dem Aufprall zusammenbrach.
Masterton schnaubte verächtlich, reckte kampflustig das Kinn vor und kam auf Vivian zu. »Was wollte der Kerl von Ihnen?« fragte er.
Vivians Warnung kam zu spät. Sie hatte die Bewegung aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen - ein huschendes, nebelhaftes Fließen und Gleiten auf der polierten Oberfläche des Spiegels -, aber es ging viel zu schnell, als daß sie oder Masterton noch Zeit zur Flucht oder Gegenwehr hatten.
Für einen Moment wurde das Glas milchig, dann traten zwei, drei weitere Gestalten direkt aus dem Spiegel heraus; große, hochgewachsene Männer in altmodischen Straßenanzügen und mit Schmalzlocken, die so aussahen, als wären sie aus einem Spielfilm der späten fünfziger Jahre entsprungen.
Zwei der Männer stürzten sich mit wütenden Schreien auf Masterton und rangen ihn nieder, während der dritte auf Vivian zustürmte. Auch der Hüne war wieder auf den Beinen und wandte sich zu ihr.
Vivian wehrte sich verzweifelt, doch sie spürte, wie ihre Kraft beinahe mit jeder Sekunde nachließ. Ihr Atem ging hektisch und stoßweise, und in ihrem Mund war ein bitterer Geschmack. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Masterton einen seiner Gegner mit einer geschickten Drehung zu Fall brachte und den anderen kurzerhand über den Haufen rannte. Der Manager hielt sich in dem ungleichen Kampf besser, als Vivian dies angesichts seines Alters für möglich gehalten hätte. Trotzdem war es nur noch eine Frage von Augenblicken, bis ihn die beiden Angreifer überwältigt haben würden. Mastertons Judogriffe, mit denen er die übermenschliche Kraft der Angreifer gegen diese selbst richtete, schleuderten sie immer wieder zu Boden, doch die unheimlichen Fremden schienen unverletzbar zu sein. Aus eigener Kraft würde sich Masterton nicht mehr lange halten können.