Aber Vivian hatte keine Zeit, ihm zu Hilfe zu eilen. Die beiden Männer drängten sie unbarmherzig in die Ecke, versuchten immer wieder, sie zu fassen und schienen ihre wütende Gegenwehr gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das einzige, was sie noch daran hinderte, sie einfach mit bloßer Gewalt niederzuringen, war ihr offenkundiges Bemühen, sie nicht zu verletzen. Wer immer hinter dieser heimtückischen Falle steckte - er schien es darauf abgesehen zu haben, sie nicht nur lebend, sondern nach Möglichkeit sogar unversehrt in die Hände zu bekommen.
Sie tauchte unter den ausgestreckten Armen des Angreifers hindurch und rammte ihm den Ellbogen in die Rippen. Aber genausogut hätte sie versuchen können, eine der Marmorsäulen draußen in der Halle auf diese Weise zu fällen. Sie taumelte, prallte gegen die Wand und stieß den Fremden unter Aufbietung aller Kraft von sich. Seine nieder sausende, zu einer Kralle verkrümmten Hand verfehlte sie nur um Millimeter.
Vivians Blick glitt hilfesuchend durch den Raum, streifte den Spiegel und erhaschte eine kurze, aber witzige Szene: Sie sah Jonathan Masterton, der einen unsichtbaren Gegner über die Schulter schleuderte und gleich darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie brach.
»Gib endlich auf!« zischte einer der Männer. Vivian sah, wie sich seine Brust in hektischen Stößen hob und senkte. Feiner, glitzernder Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er ging unmerklich in die Knie, breitete die Arme aus und kam einen Schritt näher. Sein Atem ging keuchend. Die unheimlichen Gestalten mochten unverwundbar sein, aber sie kannten wenigstens Erschöpfung.
Vivian sprang. Ihr Fuß kam in einem perfekten Halbkreis hoch und traf den Gegner auf der Brust. Der Mann schrie auf, taumelte zurück und prallte gegen einen seiner Begleiter. Ein hoher, singender Ton zerriß die Luft, als die beiden Körper mit ungeheurer Wucht zusammenstießen.
Sofort reagierte Vivian. Sie hechtete vor, rammte einem dritten Angreifer, der inzwischen von Jonathan Masterton abgelassen hatte, die Schulter in den Magen und versuchte, die Tür zu erreichen.
Sie schaffte es nicht.
Irgend etwas krachte hart und schmerzhaft gegen sie. Vivian wurde von den Füßen gerissen, rollte sich instinktiv ab und blieb schweratmend liegen. Als sich die blutigen Schleier vor ihren Augen lichteten, sah sie die Gestalten der drei Männer groß und drohend über sich aufragen. Die drei griffen jedoch kein weiteres Mal mehr an; sie schienen zu spüren, daß von ihr jetzt keine Gefahr mehr ausging. Einer von ihnen eilte zur Tür, schloß sie und lehnte sich grinsend dagegen, während die beiden anderen Vivian beim Aufstehen halfen und sie vor sich hertrieben. Ihre Gesichter waren so unbeweglich, als wären sie Statuen.
Vivian wich Schritt für Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Sie fühlte sich ausgebrannt, zu Tode erschöpft und unendlich müde.
Kämpfe! flüsterte eine Stimme in ihr. Wehr dich! Du bist verloren, wenn sie dich in die Hände bekommen!
Vivian kämpfte gegen die Wellen der Müdigkeit an. Sie stöhnte, stieß sich mit letzter Kraft von der Wand ab und versuchte, an den Männern vorbeizulaufen.
Ihre Gegner ließen ihr nicht einmal die Spur einer Chance. Vivian fühlte sich plötzlich von übermenschlich starken Händen gepackt und zurückgerissen. Ein harter Stoß trieb ihr die Luft aus den Lungen, dann wurden ihr die Arme schmerzhaft auf den Rücken gedreht. Wimmernd brach sie in die Knie, während die beiden Männer sie auf den Spiegel zuschleiften.
Zuerst hatte er das Empfinden von unglaublicher Kälte, verbunden mit einem übelkeiterregenden Gefühl des Fallens. Es war, als würde sein Körper warnungslos in eiskaltes Wasser getaucht, in der nächsten Sekunde in Flammen gehüllt und dann in ein weites, eisiges Nichts hinausgeschleudert. Aber keiner dieser Eindrücke dauerte lange genug, um den Schmerz wirklich an sein Bewußtsein dringen lassen. Für einen kurzen, grauenhaften Moment schien er in jenem schwarzen Nichts zwischen den Dimensionen gefangen zu sein, dann hüllte ihn plötzlich gleißende Helligkeit ein, und er stürzte aus einer Höhe von kaum einem halben Meter auf einen stahlharten Boden nieder.
Dennoch raubte der Aufprall ihm fast das Bewußtsein. Ein scharfer, stechender Schmerz zuckte durch seine Handgelenke, als er versuchte, den Sturz aufzufangen, und seine Stirn prallte unsanft auf den glasharten Fußboden.
Mark benötigte ein paar Sekunden, um wieder einigermaßen zu sich zu kommen und sich zu orientieren. Er blinzelte, richtete sich mühsam auf Hände und Knie auf und sah sich neugierig um. Er lag im Zentrum eines runden, ganz mit Spiegeln ausgeschlagenen Raumes von unbestimmbarer Größe. Weißes, fast schmerzhaft intensives Licht stach in seine Augen. Der Raum schien nicht besonders groß zu sein, aber die sinnverwirrenden, tausendfach gebrochenen Spiegelbilder, die Spiegelungen von Spiegelungen, Lichtblitze und irisierenden Farbflecken an den Wänden machten es unmöglich, seine wirklichen Dimensionen abzuschätzen. Er hatte das Gefühl, im Mittelpunkt eines ungeheuren Kristalls zu schweben. Sein Gleichgewichtssinn und die Nervenenden in seinen Fingern verrieten ihm, das unter ihm solider, harter Boden war, aber die Spiegel waren so geschickt geschliffen, daß ihm seine Augen die Illusion vorgaukelten, über einem metertiefen Abgrund zu schweben.
Mark richtete sich vorsichtig auf und sah sich um. Der Raum schien keinen sichtbaren Ausgang zu besitzen; wohin Mark auch blickte, überall starrte ihm sein eigenes, schreckensbleiches Spiegelbild entgegen.
Er drehte sich einmal um seine Achse, zuckte mit den Schultern und ging mit tastend vorgestreckten Händen auf die gegenüberliegende Wand zu. Der Raum schien sich mit ihm zu bewegen, sich auf unglaubliche, vollkommen unlogische Weise zu verzerren und zu verwerfen, aber Mark achtete nicht darauf. Alles, was er sah, war Illusion, ein Werk dieser verteufelt geschickt angeordneten Spiegel, die wahrscheinlich nur dem einzigen Zweck dienten, einen Fremden zu verwirren, der in diese Falle geriet.
So leicht aber gab Mark nicht auf. Von den Wesen, vor denen er geflohen war, war nichts zu entdecken, aber der Besitzer dieses Spiegellabyrinths wußte vermutlich schon von seiner Anwesenheit oder würde sie bald bemerken. Mark dachte gar nicht daran, tatenlos abzuwarten, bis man ihn fand. Wenn er sich nicht mehr auf seine Augen verlassen konnte, mußten eben seine anderen Sinne ausreichen.
Seine Finger stießen gegen ein glattes, hartes Hindernis, lange, bevor sie mit den ausgestreckten Fingerspitzen seines Spiegelbildes zusammentrafen. Er preßte beide Hände gegen das unsichtbare Hindernis und begann dann, sich Schritt für Schritt an der Wand entlangzutasten. Eine mühsame Art, vorwärts zu kommen, aber seine Anstrengungen wurden belohnt, als er den Raum etwa zur Hälfte umkreist hatte, und seine Finger plötzlich ins Leere stießen.
Mark glitt geduckt durch den plötzlich aufklaffenden Durchgang. Nach der geradezu schmerzhaften Helligkeit des Spiegelraumes sah er im ersten Moment nur Schwärze, und er stieß sich schmerzhaft den Kopf. Seine Augen benötigten fast eine Minute, um sich an die Dunkelheit in dem angrenzenden Zimmer umzustellen, bevor er überhaupt etwas erkennen konnte.
Der Raum war so niedrig, daß Mark nur geduckt stehen konnte, ohne mit dem Kopf die Decke zu berühren.
Durch ein schmales, schießschartenähnliches Fenster an der Rückwand fiel silbernes Mondlicht herein; die einzige Beleuchtung der vielleicht zehn Quadratmeter großen Kammer. An der rechten Wand stand ein niedriges, unbequem aussehendes Feldbett, darüber ein Regal mit wenigen, zerlesenen Büchern und einem tönernen Trinkbecher. Ein niedriger, dreibeiniger Tisch und ein lehnenloser Hocker stellten die gesamte übrige Einrichtung dar. Mark nahm all diese Eindrücke mit einem einzigen Blick auf. Es hielt sich niemand in dem Raum auf, aber durch die dünnen Bretterwände hörte er dumpfes Stimmengemurmel, das die Anwesenheit mehrerer Personen verriet.