Mark schlich geduckt zur Rückwand und spähte vorsichtig durch das Fenster ins Freie. Der Mond hing halbrund am Himmel und verwandelte die Landschaft in ein bizarres Muster aus grauen und schwarzen Flächen. Mark hatte den Eindruck, auf die Filmkulisse einer Geisterstadt zu sehen. Alte, baufällige Bretterbuden wechselten mit rostigen Wellblechgebäuden ab, und über der schwarzen, unregelmäßigen Skyline des Ortes erhob sich etwas, das ihn an die Reste eines halb verfallenen Riesenrades erinnerte. Es mußte ein Vergnügungspark oder so etwas sein. Mark versuchte sich zu erinnern, wo er eine solche Szenerie schon einmal gesehen hatte, gab dann aber schulterzuckend auf und schlich zur gegenüberliegenden Tür.
Die Stimmen waren mittlerweile verklungen, und das einzige Geräusch, das er hörte, war sein eigener, keuchender Atem. So leise wie möglich drückte er die Klinge herunter und spähte in den angrenzenden Raum. Es handelte sich um einen langen, niedrigen Gang, von dem zahllose Türen zu beiden Seiten hin abzweigten. Unendlich vorsichtig und ängstlich darum bemüht, auch nicht das leiseste Geräusch zu verursachen, öffnete Mark die Tür weiter und trat auf den Korridor hinaus. Sein Herz begann vor Aufregung wild zu schlagen. Offenbar hatte bisher noch niemand etwas von seinem Eindringen bemerkt.
Er ging zögernd über den Flur, starrte die glatten, gleichförmigen Türen an und versuchte sich über sein weiteres Vorgehen klar zu werden. Es nutzte niemandem etwas, wenn er hier herumstand und darauf wartete, entdeckt zu werden. Hinter einigen der Türen klangen Stimmen oder andere Geräusche auf, aber bei der seltsamen Akustik dieses Gebäudes ließ sich beim besten Willen nicht sagen, hinter welchen.
Mark wählte irgendeine Tür aus und trat hindurch. Dahinter lag ein weiterer schmaler Gang. Seine Konturen schienen in der Entfernung zusammenzufließen und bis in die Unendlichkeit zu reichen, und an den Wänden hingen Hunderte von lebensgroßen, in kostbare Goldrahmen gefaßte Bilder.
Mark stutzte. Irgend etwas an diesen Bildern irritierte ihn. Er schob die Tür hinter sich ins Schloß und trat neugierig an einen der Rahmen heran. Erst jetzt bemerkte er, daß es sich nicht um ein gemaltes Bild handelte, sondern um eine Glasscheibe, hinter der ein weiterer Gang zu sehen war. Eine untersetzte, kräftige Männergestalt war innerhalb des Rahmens zu sehen. Sie schien direkt auf das Glas gemalt zu sein; es war die exakteste Abbildung eines Menschen, die Mark jemals gesehen hatte. Sie trug die gleiche anachronistische Kleidung wie die Männer, die er auf dem Dachboden von Conellys Haus beobachtet hatte. Er trat noch einen Schritt näher und musterte die Gestalten aus zusammengekniffenen Augen. Der Künstler hatte jede noch so feine Struktur des Anzugstoffes, jedes Staubkörnchen und jede winzige Pore, buchstäblich jedes Haar auf das Glas gebannt. Die Gestalt wirkte so unglaublich lebensecht, als würde sie auf der anderen Seite der Scheibe stehen, aber während sich die Perspektiven des Ganges verschoben, sobald Mark den Kopf ein wenig bewegte, blieb das zweidimensionale Abbild des Mannes starr auf der Scheibe. Es konnte sich unmöglich um ein gemaltes Bild handeln, eher schon um ein Photo, das irgendwie auf das Glas projiziert worden war.
Mark richtete seine Aufmerksamkeit auf den Gang hinter der Gestalt und die Bilder dort, soweit sie zu erkennen waren. Ein paarmal schaute er sich um, betrachtete die Bilder hinter sich und stieß ein ersticktes Keuchen aus, als er die Wahrheit begriff. Sowohl in dem Gang, in dem er stand, wie auch in dem Ausschnitt des parallelen Ganges hingen exakt die gleichen Bilder, nur, daß die Perspektive seitenverkehrt war. Mark trat an eines der Bilder auf der gegenüberliegenden Seite, in dem eine ältere, ebenfalls völlig unmodisch gekleidete Frau abgebildet war. Auch hinter ihr war seitenverkehrt eine exakte Abbildung des gleichen Ganges zu sehen, hinter den darin hängenden Bildern ein weiterer und noch einer.
Mark zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke und begann, auf der Scheibe zu malen, immer noch in der Hoffnung, daß er sich getäuscht hatte. Der Kugelschreiber schrieb nur schlecht auf dem glatten Glas, so daß es eine Weile dauerte, bis er einen einigermaßen deutlichen blauen Balken hinbekommen hatte. Zögernd drehte sich Mark um, trat wieder auf das andere Bild zu und betrachtete die Abbildung des hinter ihm hängenden Bildes darin. Es zeigte ebenfalls den blauen Balken, der sichere Beweis, daß es sich um ein und denselben Gang handelte.
Was er vor sich sah, war keine durchsichtige Glasscheibe mit einem dahinter liegenden Gang, sondern ein Spiegel, aber ein Spiegel, in dem zwar der Hintergrund zu sehen war, in dem er selbst jedoch unsichtbar blieb. Dafür sah er das Bild des fremden Mannes!
Marks Gedanken sträubten sich gegen die Erkenntnis, obwohl es nur eine Erklärung gab.
Die Männer und Frauen, die ihn aus den unzähligen goldenen Rahmen anzustarren schienen, waren weder gemalt noch fotografiert, sondern eingefangene Spiegelbilder wirklicher Menschen!
Plötzlich bekam alles einen Sinn. Die Männer ohne Spiegelbilder, die er auf dem Eingang gesehen hatte - ihre Spiegelbilder waren hier! Gefangen in unzähligen Spiegeln, die in schier endloser Folge an den Wänden aufgereiht waren, auch wenn es allen Naturgesetzen Hohn sprach. Und dennoch konnte es nicht anders sein.
Fast ohne sich dessen bewußt zu sein, begann Mark zu rennen, den Blick auf die leblosen, eingefrorenen Spiegelbilder gerichtet. Er wußte nicht, wie lange er so durch den Gang lief, wie viele Spiegelbilder an ihm vorbeizogen, aber es waren viele, entsetzlich viele. Hunderte.
Nach einer Weile fiel ihm eine Veränderung auf: Die Spiegelbilder waren nicht alle gleich. Die meisten waren so scharf und gestochen wie präzise Farbfotografien, aber bei einigen war eine deutliche Veränderung zu bemerken. So wie Fotos im Laufe der Zeit verblaßten, wirkten auch die Konturen der Spiegelbilder seltsam zerfasert, verschwommen, die Farben blaß und ausgebleicht, als befänden sie sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls.
Dann traf er auf den ersten leeren Spiegel. Die Oberfläche des Glases wirkte stumpf und glanzlos, beinahe blind - unglaublich alt. Mark berührte den Spiegel zögernd mit den Fingern. Das Glas fühle sich spröde und rissig an; eine dünne, weiße Staubschicht blieb an seinen Fingerspitzen hängen, und dort, wo er den Spiegel berührt hatte, bildeten sich für Sekunden winzige Wellenkreise, als bestünde er nicht aus Glas, sondern aus gefrorenem Quecksilber, das durch seine Körperwärme aufgetaut worden war.
»Seien Sie herzlich willkommen, Mister Taylor«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Mark wirbelte herum. Kaum zwanzig Meter hinter ihm stand ein alter, einarmiger Mann. Er wirkte irgendwie klein und verloren in dem Spiegelgang, aber in seinen grauen Augen lag ein ungeheuer starkes Selbstvertrauen, ein unerschütterliches Bewußtsein von Stärke und Macht.
»Ich gratuliere Ihnen«, sagte der Alte. Seine Stimme klang belustigt. »Bisher hat es noch niemand geschafft, gegen meinen Willen so tief in mein Reich vorzudringen.«
»Wer ... wer sind Sie?« stieß Mark hervor. Er spürte, daß von diesem so harmlos aussehenden alten Mann eine ungeheure Gefahr ausging.
»Mein Name ist Ulthar«, erklärte der Einarmige. »Aber der wird Ihnen sicher nichts bedeuten. Vielleicht hilft es Ihnen weiter, zu erfahren, daß diese Spiegel, für die Sie sich so interessieren, mein Werk sind.« Er lächelte dünn, trat beiseite und machte eine einladende Handbewegung. »Folgen Sie mir, Mister Taylor. Es redet sich hier nicht so gut.«
Mark rührte sich nicht von der Stelle. »Diese Spiegel«, sagte er vorsichtig. »Was ... was bedeutet das alles?«
Ulthar hob die Schulter, eine Geste, die bei seiner einarmigen Erscheinung irgendwie lächerlich wirkte, aber Mark war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. »Sie wissen es doch längst, Mister Taylor«, erklärte Ulthar nach kurzem Zögern. »Und jetzt«, seine Stimme wurde laut und befehlend, »folgen Sie mir!«