Die Beleuchtung des Ganges flackerte und ging dann ganz aus, aber trotzdem wurde es nicht dunkel. Einer der großen Spiegel begann plötzlich in geheimnisvollem Licht zu leuchten. Ein helles, elektrisches Knistern erfüllte mit einemmal die Luft.
Marks Blick wurde von dem Spiegel wie magisch angezogen. Mit aller Willenskraft bemühte er sich wegzusehen, doch es gelang ihm nicht. Er spürte, wie sein Widerstand rasch schwächer wurde. Langsam, mit roboterhaften, steifen Bewegungen, ging er auf den Spiegel zu. Er sah sich selbst, sein schreckensbleiches Gesicht, seine angstvoll aufgerissenen Augen, aber er kam nicht gegen die suggestive Wirkung des Spiegels an.
Dann hob das Spiegelbild plötzlich die Hand, winkte ihm auffordernd zu ...
Mark stöhnte. Auf dem Gesicht seines Spiegelbildes erschien ein kaltes, zynisches Lächeln. Er kämpfte verzweifelt gegen den fürchterlichen Sog an, der ihn auf den Spiegel zutrieb. Seine Finger prallten gegen die harte, kühle Oberfläche, aber nur für eine Sekunde, dann drangen sie so mühelos ein wie in Wasser. Gleichzeitig fuhr ein furchtbarer Schmerz durch seinen Körper, als ob sein Innerstes nach außen gekehrt würde. Er versuchte sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Die Welt um ihn herum war flach, eng und begrenzt; nur noch die Dimensionen Höhe und Breite existierten für ihn. Er sah, wie sich ein Mann auf der anderen Seite des Spiegels aufrichtete und langsam den Gang hinunterschritt.
Nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um. Mark konnte nicht einmal schreien, als er das Gesicht des Mannes sah, sein eigenes Gesicht, in dessen Augen ein grausamer, harter Ausdruck lag.
9
Für einen winzigen Moment kam es Vivian vor, als wäre die Zeit selbst erstarrt. Die Gestalten ihrer unheimlichen Gegner schienen mitten in der Bewegung einzufrieren. Ein lauter, quälend hoher Ton lag plötzlich in der Luft; ein zermürbendes Kreischen und Singen, als würde irgendwo ein gigantisches Weinglas angeschlagen. Sämtliche Gläser und Flaschen im Raum begannen zu klirren.
Vivian konnte sich aus dem brutalen Griff des Angreifers lösen. Sie fiel zu Boden und prallte schmerzhaft auf den harten Marmor.
Dann, scheinbar ohne jeden Grund und von einem Moment zum anderen, explodierte der Spiegel. Es gab einen kurzen, grellen Lichtblitz, gefolgt von einem Schwall heißer Luft, der den Raum mit einem Hagel winziger scharfkantiger Spiegelstückchen überschüttete, aber das nahm Vivian kaum wahr. Entsetzt beobachtete sie, wie sich die unheimlichen Gestalten wie unter einem ungeheuren Schock aufbäumten, um gleich darauf wieder zu erstarren. Ihre Körper begannen milchig und kristallen zu werden, und in Ansätzen sogar transparent, so daß Vivian meinte, verzerrt den Hintergrund des Raumes durch sie hindurchschimmern zu sehen. Sie hatten den Eindruck lebensgroße Glasskulpturen zu sehen.
Dann zerbrachen sie.
Mit ohrenbetäubendem Knall zerbarsten sie in unzählige Bruchstücke. Der Anblick war so grauenhaft, daß Vivian nur daliegen und das Schauspiel wie gelähmt beobachten konnte.
Dann, von einer Sekunde zur anderen, kehrte eine fast unnatürliche Ruhe ein.
Vivian richtete sich mühsam auf die Ellenbogen auf und drehte den Kopf. Der Raum war so gründlich verwüstet, als wären hier ganze Armeen aufeinandergeprallt. Der große, leere Rahmen über dem Kamin schien sie höhnisch anzugrinsen. Überall lagen Glasscherben; zerbrochene Fragmente des großen Spiegels, zertrümmerte Gläser und Flaschen und die kleinen, an zerborstenes Sicherheitsglas erinnernden Glasstückchen, in die sich die Körper der Angreifer verwandelt hatten.
Sie stand auf, watete durch ein Meer von Trümmern und Glas zu Masterton hinüber und drehte ihn auf den Rücken. Der Manager war bewußtlos, schien aber bis auf eine mächtige Beule am Hinterkopf und ein paar oberflächliche Kratzer unverletzt zu sein. Sie zog ihre Jacke aus, bettete seinen Kopf behutsam darauf und stand auf. Unter ihren Schuhen knirschte Glas, als sie zur Tür ging. Sie brauchte einen Arzt für Masterton.
Ungeheurer Lärm schlug ihr entgegen, kaum daß sie auf den Korridor hinausgetreten war: das Klirren von Glas, die entsetzten Schreie von Männern und Frauen, Schmerzenslaute. Als sie die Tür zum Ballsaal erreichte, prallte sie entsetzt zurück.
Sämtliche Ausgänge des Saales waren von Gruppen großer, muskulöser Männer versperrt, die jeden Versuch, den Raum zu verlassen, verhinderten. An den Wänden hatten sich ein Dutzend schmaler Tapetentüren geöffnet, durch die Scharen von Angreifern in den Raum strömten, sich über die Gäste warfen und sie mit übermenschlicher Kraft niederrangen. Viele der Angreifer waren verkleidet, trugen Kostüme aus grünlicher Schuppenhaut, die sie ein wenig wie stämmige, aufrecht gehende Echsen aussehen ließen. Auf dem Kopf trugen sie an Krokodilschädel erinnernde Gummimasken, doch obwohl die bizarren Kostüme sie behindern mußten, kämpften sie mit der gleichen Geschmeidigkeit und ungeheuren Kraft wie die übrigen Angreifer. Auch wenn es sich nur um Kostüme handelte, schauderte Vivian. Die Gestalten sahen täuschend echt aus, fremdartige, furchteinflößende Bestien, die geradewegs einem Horrorfilm entsprungen sein könnten. Dennoch kamen sie Vivian seltsam vertraut vor, ohne daß sie sich in ihrer Panik bewußt wurde, woher dieses Gefühl stammte.
Vivian sah, daß ein paar beherzte Männer und Frauen einen Kreis gebildet hatten und versuchten, sich die Angreifer vom Leibe zu halten. Sie hatten sich mit Tisch- und Stuhlbeinen bewaffnet, aber gegen die scheinbar unverwundbaren Gestalten schien jeder Widerstand sinnlos zu sein. Immer wieder preschten zwei oder drei der Unheimlichen vor, rissen ein wehrloses Opfer aus dem Kreis heraus und schleiften es davon.
Vivian entdeckte Conelly, Cramer und Bender bei einer Gruppe von etwa zehn Männern, die im Hintergrund des Saales standen und dem Kampf offenbar unbeteiligt zusahen.
Irgend etwas krachte dicht neben ihr gegen die Wand und zerbarst. Vivian bemerkte es kaum. Das gräßliche Schauspiel hatte sie ganz in ihren Bann geschlagen. Der ganze Empfang war eine riesige Falle gewesen. Conelly, oder wer immer sonst hinter dem Ganzen stand, hatte mit einem einzigen Schlag praktisch die gesamte Führungsspitze der Stadt in seine Gewalt gebracht.
Conelly fuhr plötzlich herum. Seine Augen verengten sich, als er Vivian erkannte. Sie sah, daß er irgend etwas rief und hektisch mit den Armen fuchtelte. Vier, fünf der Angreifer in den Echsenkostümen ließen plötzlich von ihren Opfern ab und bewegten sich auf sie zu.
Vivian fuhr herum und sah sich gehetzt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Die breite, offene Freitreppe, die ins Untergeschoß führte, wurde von einer Doppelreihe finster dreinblickender Gestalten gesperrt, so daß Vivian nichts anderes übrig blieb, als den Flur in der gleichen Richtung entlangzurennen, aus der sie gerade gekommen war.
Aus einer Tür ein Stück vor ihr kamen weitere der maskierten Gestalten und versperrten ihr den Weg auch in dieser Richtung. Blindlings riß Vivian eine der von dem Gang abzweigenden Türen auf und stürmte in den Raum dahinter. Es handelte sich um eine Bibliothek, ähnlich der, in der sie bei den Mastertons die Seance abgehalten hatte. Einen weiteren Ausgang gab es nicht, nur eine Glastür, die auf einen kleinen Balkon hinausführte.
Vivian versuchte, die Tür hinter sich wieder zu schließen, doch einer der Angreifer warf sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Vivian wurde zurückgeschleudert und wäre beinahe gestürzt. Im letzten Moment konnte sie sich an einem Regal abstützen. Sie wich noch weiter zurück, als die Maskierten in den Raum eindrangen. Sie wußte nicht, was die alberne Kostümierung bedeuten sollte, aber nachdem sie die Gestalten nun aus der Nähe sah, war sie sich nicht einmal sicher, ob es sich wirklich nur um Kostüme handelte. Zumindest waren die Masken ungeheuer realistisch.