Выбрать главу

Natürlich hatte der Händler ihr Interesse sofort bemerkt und eine horrende Summe verlangt, und obwohl sie den Preis noch um einiges drücken konnte, hatte der Kauf des Medaillons fast ihre gesamte, ohnehin nicht besonders üppige Reisekasse verschlungen. Aber trotz seines beinahe unscheinbaren Aussehens war es jeden Penny mehr als wert gewesen.

Vivian hob das Medaillon vor die Augen und starrte es an. Es handelte sich um einen flachen, von einem matten, bläulichen Glanz erfüllten Schmuckstein, eingefaßt in einen silbernen, sternförmig gezackten Kranz. Unverständliche Schriftzeichen waren in das Silber eingraviert, auf deren Bedeutung sie auch in ihrer mittlerweile recht umfangreichen Sammlung okkulter Schriftstücke und Bücher keinen Hinweis gefunden hatte. Ein paarmal hatte sie erwogen, die Zeichen einem Archäologen oder Schriftforscher vorzulegen, war aber ebenso stets davor zurückgeschreckt wie vor einer Analyse des Materials, aus dem der Stein bestand. Unterschwellig fürchtete sie, die geheimnisvolle Macht des Talismans könnte verlorengehen, wenn sie zuviel von seinem Geheimnis entschlüsselte.

Auch jetzt spürte sie das Pulsieren des Steins, der auf die medialen Kräfte in ihr reagierte, ihre Gedanken wie in einem Fokus zu bündeln und zu verstärken schien, aber eine Antwort auf die drängenden Fragen, die sie quälten, vermochte auch er ihr nicht zu liefern.

Nach einigen Minuten hatte sich Vivian zu einem Entschluß durchgerungen. Sie drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus, leerte die noch halbvolle Tasse in einem Zug und stand auf, um das Päckchen Tarock-Karten aus ihrer Handtasche zu holen, auf das sie auch auf dieser Reise nicht verzichtet hatte. Mit den Karten in der Hand kehrte sie an den Tisch zurück und setzte sich wieder, dann zögerte sie aber. Noch nie zuvor hatte sie für sich oder für Mark die Karten gelegt. Bislang war sie immer davor zurückgeschreckt. Was auch immer sie aus den Karten über andere erfuhr, konnte sie ihnen schonend mitteilen, notfalls abschwächen oder ganz verschweigen. Sich selbst hingegen würde sie nichts vormachen können, und im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie begriffen, daß es nicht immer erstrebenswert war, die Zukunft, oder wenigstens einen Teilaspekt davon zu kennen. Sie wußte nur zu gut, daß die von den Karten offenbarten Konstellationen sich auf vielfältige Weise interpretieren ließen, und das, was man sich am wenigsten wünschte, nur deshalb eintrat, weil man es nach einer Voraussage mit aller Kraft zu verhindern versuchte.

Jetzt aber war sie an einem Punkt angelangt, wo sie die quälende Ungewißheit nicht länger ertragen konnte. Mit mechanischen Bewegungen begann sie, die Karten in der vorgeschriebenen Form auf dem Tisch aufzudecken. Ihre Finger zitterten merklich. Sie spürte, wie sich das Medaillon auf ihrer Brust stärker zu erwärmen begann.

Schon nach wenigen Sekunden zeichnete sich ab, daß es eine interessante Konstellation werden würde, kompliziert und verworren, doch nachdem sie fertig war, hatte sie dafür keinen Gedanken mehr übrig. Ihr Blick hing wie gebannt an den beiden Karten, die das gesamte übrige Gefüge dominierten.

Die eine von ihnen zeigte den doppelgesichtigen Januskopf, der gleichermaßen das Antlitz eines Engels wie eines Teufels besaß.

Die andere Karte zeigte den Tod.

2

Die See war in dieser Nacht so ruhig, daß selbst das leise Geräusch der ins Wasser tauchenden Ruderblätter wie das Tosen eines Wasserfalls zu klingen schien. Es war dunkel, aber es war eine seltsame, wattige Dunkelheit, in der nicht nur Licht, sondern auch die Geräusche des Hafens und der Stadt zu versickern schienen. Selbst der Mond wirkte fremd und beunruhigend - eine bleiche, fleckige Scheibe, die kein Licht spendete, sondern wie ein scharf ausgestanztes Loch im Himmel aussah.

Längst schon bereute Melissa Warren ihren Entschluß, Frank auf diesen nächtlichen Ausflug begleitet zu haben, aber sie hatte bisher einfach nicht den Mut aufgebracht, ihm zu sagen, daß sie sich hier nicht wohl fühlte, daß ihr die Umgebung Unbehagen bereitete und sie im Grunde Angst hatte und nach Hause wollte. Sie versuchte, das langsam aufkeimende Gefühl der Furcht zu ignorieren und drehte sich um, um zum Ufer zurückzusehen.

Sie waren erst vor einigen Minuten losgefahren, aber die Kaimauer war längst im Dunkel versunken und zu einem Teil der Nacht geworden. Rechts von ihrem Boot glänzte ein Meer heller Lichter, durchsetzt von kleinen, bunten, auf und ab blitzenden Sternen; der Yachthafen. Selbst über das leise Tuckern des Außenbordmotors waren Musikfetzen und ein wispernder Chor undeutlicher Stimmen zu hören, die von dort durch die Nacht zu ihnen herüberwehten. Hinter dem Hafen erhob sich die Lichtglocke der Riesenstadt New York, deren City zu dieser Uhrzeit erst richtig erwachte. Aber selbst der Glanz der Millionenstadt schien gedämpft, als hätte jemand einen unsichtbaren, lichtschluckenden Schleier über der Stadt ausgebreitet.

Melissa schauderte.

Frank bemerkte ihr Zusammenzucken, legte es aber falsch aus. Er schälte sich umständlich aus seiner Jacke und legte sie um Melissas Schultern. »Es wird rasch kühl hier draußen«, sagte er überflüssigerweise. »Ich wollte eigentlich noch ein bißchen herumfahren, aber wenn dir kalt ist ...« Er sprach nicht weiter, sondern änderte den Kurs des Bootes ein wenig.

Melissa strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn, das in sanften Locken bis weit über ihren Rücken fiel, erwiderte das Lächeln des Jungen flüchtig und starrte an ihm vorbei zum gegenüberliegenden Ufer. Nacht und Entfernung hatten es zu einer drohenden, zweidimensionalen Silhouette werden lassen; eine schwarze, kompakte Masse aus unidentifizierbaren Umrissen und bizarren Türmen. Das Bild erinnerte Melissa an jene Art von Schlössern, die man häufig in Zeichentrick- oder Märchenfilmen sieht: schwarze Ungeheuer aus Stein und gestaltgewordener Furcht, bewohnt von dunklen Zaubern und Magiern und fast immer auf unbeschreibbaren Gipfeln oder inmitten grundloser Seen gelegen. Der Gedanke erschien ihr so albern und kindisch, daß sie normalerweise laut darüber gelacht hätte. Aber heute war ihr nicht zum Lachen. Immer deutlicher kam es ihr so vor, als ob sich mit der Dunkelheit eine schwarze, erstickende Decke ausgebreitet hatte, etwas, was sich wie eine unbegreifliche Barriere zwischen sie und die reale Welt geschoben hatte und langsam ihr Denken vergiftete.

Das Ufer kam rasch näher. Gleichzeitig fielen die Geräusche des Yachthafens und die Lichter der Stadt zurück. Scharrend fuhr der Bootsrumpf über Sand und Kies, als sie den Strand erreichten. Frank stellte den Motor ab, sprang leichtfüßig auf den Sand hinaus und half Melissa beim Aussteigen. Dann zog er das Boot ganz auf den feinkörnigen Sandstrand hinauf und überzeugte sich pedantisch davon, daß es nicht von einer unvorhergesehenen Welle mitgerissen werden konnte.

»Da wären wir also«, sagte er. »Coney Island - das größte Vergnügungsparadies der Stadt. Und heute abend ganz allein für uns zwei geöffnet.« Er grinste, und für einen Moment fühlte sich Melissa von seinem überschäumenden Tatendrang mitgerissen. Sie hatte Franks Idee, einfach ein Boot zu nehmen und zu dem stillgelegten Vergnügungspark hinüberzurudern, von Anfang an für nicht besonders gut gehalten. Wenn man wie sie in der South Bronx aufgewachsen war, lernte man früh, sich zu behaupten, aber man lernte auch, Gefahren weitmöglichst zu meiden. In einer Stadt, die von Wahnsinnigen und Kriminellen nur so wimmelte, in der man als Frau in jeder dunklen Gasse, an jedem etwas einsameren Platz Gefahr lief, überfallen und ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden, blieb einem gar nichts anderes übrig. Am sichersten war es, im Strom der Menge zu schwimmen, statt sich von der Herde abzusetzen.