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Niemand antwortete ihr. Noch ein paarmal versuchte Vivian, ein Gespräch mit Cramer oder einem ihrer Bewacher zu beginnen, aber auch weiterhin bekam sie keine Antwort. Von Zeit zu Zeit warf Cramer ihr einen nachdenklichen Blick zu, doch er schwieg ebenfalls beharrlich auf ihre Fragen. Nach einer Weile gab Vivian auf und lehnte sich resignierend in die Polster zurück.

Der Wagen hatte die belegte City verlassen und fuhr jetzt auf einer Seitenstraße am Meer entlang. Dann und wann huschte der Umriß eines jener großen, auf hölzernen Plattformen erbauten Strandhäuser vorbei, wie sie für diesen Teil der amerikanischen Ostküste typisch waren, aber die Anzeichen von Leben schienen mit jeder Meile, die sie zurücklegten, geringer zu werden, dabei befanden sie sich noch innerhalb der Stadtgrenze New Yorks. Aber die Riesenstadt war auch mit kaum einer anderen Metropole der Welt zu vergleichen. New York war groß, unglaublich groß sogar. Das, was man sich normalerweise unter dem Begriff New York vorstellte, die Halbinsel Manhattan mit ihren himmelstürmenden Wolkenkratzern, stellte in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil der Stadt dar. Cramers Ziel mußte irgendwo im Süden der Stadt liegen, in einem der allmählich absterbenden Viertel um den Yachthafen herum, die ihre Blütezeit schon vor dem Zweiten Weltkrieg überschritten hatten. Vivian konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Zwar kannte sie sich nicht besonders gut aus in New York, und sie wußte auch nicht, wohin Cramer mit ihr wollte, aber je länger sie ihre Route verfolgte, desto sicherer wurde sie, daß er eine Menge Umwege fahren ließ, statt sein Ziel direkt anzusteuern.

Schließlich verließen sie die Straße und rumpelten eine Weile über einen kaum befestigten, mit Schlaglöchern übersäten Sandweg.

Einige Männer tauchten vor ihnen auf der Straße auf. Cramer machte ihnen ein kurzes Zeichen, worauf die Männer den Weg freigaben. Angestrengt starrte Vivian durch die Scheiben nach draußen. Ein Kassenhäuschen huschte an ihnen vorbei, dann tauchten sie in ein Labyrinth dunkler, drohender Umrisse ein. Erst jetzt erkannte Vivian, wo sie sich befanden: Auf Coney Island. Vor einigen Jahrzehnten hatte dieser riesige Jahrmarkt Millionen Besucher aus aller Welt angelockt. Der Vergnügungspark war schon vor langer Zeit aufgegeben worden, aber er existierte immer noch. Eine moderne Geisterstadt, in der sich fast nur noch Ungeziefer und gelegentlich auch zwielichtiges Gesindel herumtrieben. Eine Zeitlang hatten heruntergekommene, ältere Prostituierte versucht, die Gegend um den ehemaligen Freizeitpark mit Beschlag zu belegen, aber auch sie waren inzwischen wieder verschwunden.

Die aufgeblendeten Scheinwerfer des Wagens rissen blitzartige, huschende Bruchstücke aus der Dunkelheit: Ein grellfarbiges Plakat, zerrissen und fleckig vom Alter; die durchlöcherten Planen eines Bierzeltes, die lose im Wind hin- und herschwangen, vernagelte Bretter und Türen, heruntergelassene Gitter, hinter denen vierzig Jahre alte Teddybären darauf warteten, aus ihrem staubigen Grab befreit zu werden. Das Geräusch des Wagens schien zwischen den vielen kleinen Buden tausendfach gebrochen und verzerrt zu werden.

Die Fahrt endete vor einer niedrigen Wellblechhütte. Bevor der Fahrer den Motor abstellte und die Scheinwerfer erloschen, konnte Vivian einen flüchtigen Eindruck des Gebäudes auffangen; ein rechteckiger, nicht allzu großer Bau, lieblos aus Blechteilen zusammengefügt und mit regenbogenfarbigem, abblätterndem Lack verunziert.

Ihre Bewacher stiegen aus und bedeuteten ihr schweigend, zu dem Gebäude hinüberzugehen. Vivian gehorchte zögernd.

»Treten Sie ruhig ein, meine Liebe«, sagte eine Stimme.

Vivian zuckte zusammen. In der fleckigen Blech wand hatte sich eine Tür geöffnet. Ein alter, schmalbrüstiger Mann trat ihr entgegen.

»Es freut mich, daß Sie doch noch gekommen sind, Missis Taylor«, sagte der Alte.

»Wer ... sind Sie?«

»Mein Name ist Ulthar«, antwortete ihr Gegenüber. »Sie werden ihn sicher nicht kennen - noch nicht. Aber kommen Sie doch herein. Es ist kalt draußen.« Cramer untermalte die Aufforderung des Alten mit einem kräftigen Stoß in Vivians Rücken, der sie haltlos vorwärts taumeln ließ, was ihm einen finsteren Blick Ulthars einhandelte. »Nicht doch, Cramer. Vergessen Sie nicht, daß die Dame unser Gast ist.«

Vergeblich suchte Vivian nach einer Spur von Spott in seiner Stimme. Ulthar schien seine Worte zu meinen, wie er sie gesagt hatte. Das änderte jedoch nichts daran, daß er ihr unheimlich war.

Die Tür fiel mit einem seltsamen, dumpfen Laut hinter ihr ins Schloß. Vivian hatte plötzlich das Gefühl, in einer riesigen Gruft gefangen zu sein. Sie sah sich ängstlich um. Der Raum war bis auf einen riesigen Kunststofftisch und einen dreibeinigen Hocker vollkommen leer. Cramer und die anderen Männer waren draußen geblieben; sie war allein mit Ulthar.

»Also«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Was wollen Sie?«

Ulthar musterte sie einige Sekunden lang, dann sagte er mit ernster Stimme: »Sie!«

»Mich?« Vivian lächelte, lehnte sich gegen die Türkante und maß Ulthar mit einem spöttischen Blick. Zumindest versuchte sie spöttisch zu blicken, aber sie fürchtete, daß ihre Angst diesen Versuch kläglich scheitern ließ. »Ziemlich viel Aufhebens, nur um mich zu fangen, nicht?« fragte sie.

»Um Sie zu retten«, verbesserte Ulthar, ohne eine Miene zu verziehen. »Sie wären jetzt bereits tot, wenn meine Leute nicht eingegriffen hätten. Conelly will unter allen Umständen Ihren Tod.«

»Aber ... warum? Ich verstehe das alles nicht. Warum gerade ich? Was wollen Sie von mir, und warum will Conelly, daß ich sterbe? Was waren das für Leute auf der Party? Sie waren im Spiegel nicht zu sehen, und sie sind plötzlich wie Glas ...«

»Das sind eine Menge Fragen auf einmal«, unterbrach Ulthar sie. »Und ich fürchte, keine davon ist einfach zu beantworten. Sehen Sie - ich habe mit Conelly ein Abkommen getroffen. Er hat mir fast die gesamte Führungsspitze der Stadt in die Hände gespielt. Als Gegenleistung verlangte er Ihren Tod.«

»Ein ziemlich guter Handel für Sie«, erwiderte Vivian sarkastisch, doch hinter dem Zynismus versuchte sie nur ihre immer größer werdende Angst und Hilflosigkeit zu verbergen. »Trotzdem haben Sie ihn hintergangen. Was ist ausgerechnet an mir so Besonderes?«

»Das wissen Sie doch selbst, Missis Taylor. Sie besitzen außergewöhnliche Fähigkeiten.«

»Nur weil ich ein gutes Medium bin? Ich kann ein wenig wahrsagen und die Karten legen, aber ...«

»Sie können mehr als das, Missis Taylor«, fiel ihr Ulthar wiederum ins Wort. »Auch wenn Sie es vermutlich selbst noch nicht wissen - oder nicht mehr. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß Ihre medialen Fähigkeiten weit über die anderer Menschen hinausgehen, selbst über die der meisten sogenannten Medien. Einige wenige Menschen auf der Welt entwickeln diese Kräfte. Aus Gründen, die ich selbst nicht kenne, sind bei Ihnen bestimmte Teile des Gehirns aktiv, die gewöhnlich brachliegen. Sie sind so ein Mensch, ich ebenfalls und Conelly auch. In früheren Zeiten hat man Menschen wie uns als Hexen oder Magier gejagt und zu töten versucht. In der heutigen Zeit glaubt man nicht mehr daran, daß es übersinnliche Kräfte gibt, und die meisten von uns haben keinerlei Interesse daran, das zu ändern.«

»Im Gegensatz zu mir, meinen Sie wohl? Ist das der Grund, warum Sie mich töten wollen? Geht es Ihnen nur darum, zu verhindern, daß durch mich die Existenz übernatürlicher Kräfte bewiesen wird?«

Ulthar schüttelte den Kopf. »Aber nicht doch, meine Liebe. Außerdem hat nur Conelly vor, Sie zu töten. Ich will Ihnen ganz im Gegenteil helfen, Ihr wahres Ich wiederzuentdecken. Aber am besten werde ich Ihnen alles der Reihe nach erzählen. Es wird alles erleichtern, wenn Sie die ganze Geschichte kennen. Vielleicht werden Sie sich an einiges sogar von allein erinnern.«