»Ich habe kein Interesse an Ihren verrückten Geschichten«, sagte Vivian scharf und trat einen Schritt auf ihn zu. »Was Sie hier tun ist Freiheitsberaubung. Ich werde die Polizei benachrichtigen, wenn Sie mich nicht auf der Stelle gehen lassen!«
Ulthar lächelte amüsiert. »Nur zu. Glücklicherweise befindet sich Polizeichef Bender gerade hier in meinem Kabinett. Soll ich ihn rufen? Oder wäre es Ihnen lieber, direkt mit FBI-Direktor Cramer zu sprechen?«
Niedergeschlagen senkte Vivian den Kopf. Sie sah ein, daß Sie auf Hilfe von offizieller Seite nicht bauen durfte. Irgendwie hatte es Ulthar geschafft, sämtliche einflußreichen Leute New Yorks so zu beeinflussen, daß sie nur noch ihm gehorchten. Sie war auf sich allein gestellt. »Was ist mit Mark geschehen?« fragte sie. »Ich verspreche Ihnen, daß ich mir alles anhören werde, was Sie zu sagen haben, wenn ich vorher mit Mark sprechen kann und weiß, daß ihm nichts passiert ist.«
»Er lebt, und es geht ihm gut«, versicherte Ulthar. »Er befindet sich ebenfalls hier. Sie werden später mit ihm sprechen können.«
»Ich will ihn sehen«, beharrte Vivian. »Jetzt sofort.«
»Ich sagte später«, erwiderte Ulthar in einem Tonfall, der deutlich machte, daß er keinen weiteren Widerspruch mehr duldete. »Ich werde Ihnen zunächst etwas über mich erzählen.« Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Haß, und als er weitersprach, zitterte seine Stimme. »Ich war nicht immer so wie jetzt, Missis Taylor«, sagte er. »Ich weiß, daß ich häßlich bin. Alt, häßlich - ein Krüppel, über den die Leute lachen und mit dem sie höchstens Mitleid haben. Früher, als ich jung war, war ich ein angesehener Mann. Die Menschen schätzten und ehrten mich, und ich tat alles, was in meiner Macht stand, um diese Welt besser zu machen. Ja, Missis Taylor, besser. Ich wollte sie zu dem machen, was sich die Menschen gewünscht haben. Zu einem Paradies, in dem es jedem gutging, in dem Friede und Glück herrschte. Das waren keine leeren Hirngespinste; ich hatte die Macht dazu. Meine Spiegel gaben sie mir.«
»Ihre Spiegel?«
Ulthar nickte. »Ja. Spiegel! Nicht nur das, was die meisten Menschen darin sehen. Wenn man ihre Sprache versteht, ihr Geheimnis kennt, vermögen sie beinahe alles. Die Menschen haben schon seit jeher gewußt, daß es ein Geheimnis um jeden Spiegel gibt. Die Legende von den verzauberten Ländern hinter den Spiegeln, von der Macht, die einem verliehen wird, wenn man ein Abbild des anderen hat, sind nicht so frei aus der Luft gegriffen, wie die meisten glauben. Ein Spiegel zeigt nicht nur das äußere Abbild eines Menschen, Missis Taylor. Er zeigt den ganzen Menschen. Ich habe damals das Geheimnis der Spiegel erkannt, und ich habe entdeckt, daß man alle Schlechtigkeit, alles Böse und Verwerfliche aus dieser Welt vertreiben kann. Ich habe den Menschen ...«
»Ihre Spiegelbilder gestohlen«, sagte Vivian entsetzt.
Ulthar nickte. »Ihre negativen Spiegelbilder«, sagte er betont. »In jedem Menschen lebt ein schlechter Teil, ebenso wie ein guter. Man braucht nur das Schlechte zu entfernen, um diese Welt in ein Paradies zu verwandeln.«
»In eine Welt voller Roboter, meinen Sie«, stieß Vivian hervor. Mit einemmal wurde ihr vieles klar. Die Männer, die wie Glas zerbrochen waren und kein Spiegelbild geworfen hatten - sie waren selbst nur Abbilder gewesen, die durch einen unheilvollen Zauber zu eigenem Scheinleben erwacht waren; seelenlose Geschöpfe, die Ulthars Befehlen blind gehorchten. »Ich habe Ihre Kreaturen gesehen, Ulthar. Sollen das die Bewohner Ihres Paradieses sein? Sie sind nichts weiter als willenlose Befehlsempfänger, Wesen ohne Willen und ohne Seele.«
»Aber sie sind glücklich«, sagte Ulthar ernsthaft. »Und die Spiegelbilder von heute sind nicht die von damals. Damals fing ich die bösen Seiten der Menschen ein. Die, die mein Kabinett verließen, waren Heilige, Engel, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnten.« Plötzlich schrie er. »Aber die Menschen haben mir nicht geglaubt. Sie haben mich ausgelacht, mich einen Verrückten genannt, schließlich einen Verbrecher. Sie haben alles zerstört, haben mein Lebenswerk vernichtet und mich ins Gefängnis geworfen. Mich! Ulthar, der den Garten Eden Wahrheit hätte werden lassen!«
Vivian schauderte. Sie erkannte plötzlich, wen sie wirklich vor sich hatte: einen verrückten, alten Mann, der mehr als gefährlich war.
»Bei dem Prozeß wurde ich freigesprochen«, sprach Ulthar mit haßverzerrtem Gesicht weiter. »Niemand glaubte, daß wirklich meine Spiegel für die Veränderungen verantwortlich waren. Man glaubte eher an eine Art von Hypnose. Dadurch war es nicht schwer, die Geschworenen in meine Gewalt zu bringen. Aber der Freispruch änderte nichts an der erlittenen Schmach. Damals habe ich geschworen, mich zu rächen. Die Menschen wollten die guten Seiten meiner Entdeckung nicht, also sollten sie die andere Seite kennenlernen. Sie haben meine Spiegel zerstört, aber ich habe mein Kabinett wieder aufgebaut. Ich kann jedem meinen Willen aufzwingen, jedem, und damit werde ich nun in großem Maßstab beginnen. Ich werde diese verdammte Stadt und ihre verdammten Menschen unter meinen Befehl zwingen. Sie sollen tausendfach für alles bezahlen, was sie mir angetan haben. Millionenfach.«
»Sie ... Sie sind ja wahnsinnig«, flüsterte Vivian.
Ulthar erbleichte. Seine Lippen zitterten, und in seinen Augen trat ein heimtückisches, gefährliches Funkeln. »Wahnsinnig«, wisperte er. »Ja. Sie haben mich einen Wahnsinnigen genannt, damals. Einen gefährlichen Irren. Vielleicht stimmt es sogar. Vielleicht bin ich verrückt gewesen, weil ich geglaubt habe, den Menschen etwas Gutes antun zu können. Aber ich habe erkannt, daß das falsch war und seither nur noch für meinen eigenen Vorteil gearbeitet. Damals lernte ich jemanden kennen. Eine wunderschöne Frau, die ebenfalls übernatürliche Fähigkeiten besaß, eine Hexe. Melissa.«
»Melissa«, echote Vivian. Ein vager Verdacht, worauf Ulthar hinauswollte, keimte in ihr auf, aber der Gedanke war absurd. Andererseits war diesem Wahnsinnigen alles zuzutrauen.
»Wie ich sehe, ist Ihnen der Name nicht ganz unbekannt«, fuhr Ulthar fort. »Spätestens seit der Seance bei den Mastertons dürften Sie ihn kennen.«
»Sie wissen davon?«
»Ich habe Sie seit heute mittag beobachtet, nachdem ich Sie endlich gefunden hatte.« Ulthar lächelte, doch es sah schmerzlich aus. »Aber dazu komme ich später. Melissa und ich - wir verliebten uns damals ineinander. Und wir verbündeten uns. Gemeinsam wären wir unschlagbar gewesen, nichts hätte uns aufhalten können. Aber Melissa - sie ... sie starb unter niemals ganz geklärten Umständen. Sie wurde ermordet. Sie stürzte aus dem zwanzigsten Stock eines Hochhauses.«
Vivian wurde blaß. Sie hatte geglaubt, daß nichts von dem, was Ulthar ihr erzählte, sie noch schockieren könnte, nach dem was sie auf der Party erlebt und über die Opfer der Spiegel erfahren hatte, aber nun mußte sie erkennen, daß es zu jedem Schrecken noch eine Steigerung gab. Es mußte sich um einen Trick handeln. Irgendwie mußte Ulthar von ihrem Alptraum erfahren haben und nutzte dieses Wissen jetzt aus, um auch den letzten Rest ihres Widerstandes zu brechen und sie sich gefügig zu machen. Es war nur ein weiterer schmutziger Trick.
Aber irgend etwas tief in ihr sagte ihr, daß es nicht so war.
»Sie ... Sie sagten, Melissa hätte ungeheure Kräfte besessen«, hakte sie stockend nach. Ihre augenblickliche Situation war für Vivian unwichtig geworden, auch was mit ihr geschehen würde. Sie mußte Klarheit bekommen, dieses Geheimnis endlich entschleiern, das sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete. »Wenn sie so mächtig war, wie konnte sie dann ermordet werden?«
Ulthar schwieg. Er hatte die Augen geschlossen und schien so in seine Erinnerungen versunken zu sein, daß sie schon glaubte, er hätte ihre Anwesenheit vergessen. Als sie ihre Frage gerade wiederholen wollte, hob er den Kopf. »Sie war mächtig«, sagte er schleppend. »Sie hatte viel Zeit, ihre Kräfte zu erproben und auszubauen. Melissa kannte das Geheimnis des ewigen Lebens.«