»Aber ...«
Ulthar schnitt ihr mit einer barschen Handbewegung das Wort ab. »Sie war nicht unsterblich im herkömmlichen Sinne. Sie alterte sogar rund fünfmal so schnell wie ein normaler Mensch. Aber sie beherrschte die Seelenwanderung. Durch eine komplizierte Beschwörung konnte sie unter bestimmten Umständen ihren Geist in den Körper einer anderen versetzen, die sie zuvor tötete, um keinerlei Probleme mit deren Bewußtsein zu bekommen. Nicht einmal ich weiß, wie alt Melissa wirklich ist.«
»Das ist ... Blödsinn!« stieß Vivian hervor. »Sie phantasieren sich etwas zusammen!«
»O nein, Missis Taylor.« Ulthar schüttelte den Kopf. »Was ich sage, ist wahr. Melissa hatte gerade mit der Beschwörung begonnen, als sie ermordet wurde, deshalb besaß sie nicht mehr genug Kraft, um sich zu wehren, und sie konnte auch den Körpertausch nicht mehr durchführen. Aber sie war mit der Beschwörung bereits so weit gekommen, daß sie nicht starb, als sie von dem Balkon stürzte. Im Augenblick ihres Todes wurde ihr Geist in den Körper eines Babys geschleudert, das genau in diesem Augenblick geboren wurde. Das ist jetzt ein Vierteljahrhundert her. Während dieser ganzen Zeit habe ich nicht aufgehört, nach Melissa zu suchen, habe alle Kraft darauf verwendet. Und heute endlich habe ich die Frau gefunden, zu der das Baby von damals inzwischen herangewachsen ist. Sie sind diese Frau!«
»Sie ... Sie lügen«, stammelte Vivian, obwohl sie tief in ihrem Inneren wußte, daß Ulthar die Wahrheit sagte. Der Alptraum, die Höhenangst, ihre übersinnlichen Fähigkeiten, die fremde Macht in ihr selbst, die während der Seance die Macht über sie übernommen hatte - alles paßte plötzlich zusammen.
Dennoch weigerte sie sich, die Wahrheit anzuerkennen.
»Ich weiß, wer ich bin!« stieß sie hervor. »Ich bin nicht Melissa. Ich bin Vivian Taylor! Ich weiß, wer ich bin!«
»Sicher sind Sie Vivian Taylor«, stimmte Ulthar zu. »Der Körpertausch fand unter völlig anderen Vorzeichen als all die anderen Male zuvor statt. Er wurde nicht gezielt herbeigeführt. Melissas Bewußtsein verschmolz mit dem Ihren. Sie wurden eins, und da sie ein Fremdkörper war, setzte sich Ihr eigenes Bewußtsein, Ihr Charakter durch. Melissa verlor ihre Erinnerungen und sank in eine Art Dämmerschlaf. Aber sie war immer ein Teil von Ihnen, so wie auch in einem normalen Menschen Gut und Böse ständig um die Oberhand ringen. Ich allein habe mit meinen Spiegeln die Macht, Melissas Bewußtsein aufzuwecken und von Ihrem zu trennen, und anders als die anderen Spiegelbilder, die Sie gesehen haben, wird sie nicht nur ein Sklave ohne Individualität sein, sondern ein eigenständiger Mensch mit einem vollständigen Bewußtsein.«
»Sie ... lügen«, preßte Vivian noch einmal hervor. Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Wimmern.
»Es ist völlig unerheblich, ob Sie sich gegen die Wahrheit sträuben.« Die anfängliche Überheblichkeit klang nun wieder in Ulthars Stimme mit. »Leider gibt es nur eine Möglichkeit, Melissa die Freiheit wiederzugeben. Sie können sich sicher denken, welche.«
»Ich werde niemals ...«
»Ein ganz ähnliches Gespräch habe ich erst vor wenigen Minuten mit jemandem geführt«, fiel Ulthar ihr erneut ins Wort. »Wollen Sie wissen, mit wem?« Er bewegte die Hand. Die Tür hinter seinem Rücken öffnete sich wie von Geisterhänden bewegt. Dahinter lag ein langer, strahlender hell erleuchteter Korridor. »Sie wollten doch Ihren Mann sehen.«
Vivian schrie auf. »Mark!« Ohne Ulthar weiter zu beachten, stürzte sie vor und rannte auf Mark zu. Erst einen Sekundenbruchteil zu spät bemerkte sie die Falle. Plötzlich erfüllte dröhnendes Gelächter den Gang, und die Tür wurde krachend hinter ihr zugeschlagen. Marks Gestalt löste sich auf und gab den Blick auf einen riesigen, ovalen Spiegel frei.
Vivian warf sich gedankenschnell herum. Ihr Blick hatte das schimmernde Kristallglas nur für den Bruchteil einer Sekunde gestreift. Trotzdem spürte sie die ungeheure hypnotische Ausstrahlung, die davon ausging. Sie stöhnte. Eine eisige Hand schien sich in ihr Gehirn gekrallt zu haben, ein quälendes, drängendes Zerren und Schieben, das sie zwang, den Kopf zu drehen und den magischen Spiegel anzusehen. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, wanderte ihr Blick über den Fußboden auf den Spiegel zu.
Sie wehrte sich, aber die Kräfte des Spiegels waren stärker als sie. Vivian drehte sich um und ging mit steifen, mechanischen Schritten auf den Spiegel zu. Ein fremdes, bösartiges Ebenbild starrte ihr daraus entgegen. Sie schrie auf, schlug die Hände vors Gesicht und versuchte zurückzuweichen, aber die ungeheuren Kräfte, die sie gefangenhielten, ließen ihren Widerstand auch diesmal zerbrechen. Langsam, aber unaufhaltsam wurde sie auf den Spiegel zugezogen.
Vivian wußte, daß sie verloren war, sobald sie ihn berührte. Unter Aufbietung aller Kraft blieb sie stehen und zwang sich, dem Blick ihres negativen Spiegelbildes standzuhalten.
Irgend etwas geschah ...
Die Luft in ihrer Umgebung schien zu knistern. Ein greller, blauweißer Blitz zuckte aus der Decke, leckte nach ihren Kleidern und dem goldgefaßten Rahmen des Spiegels. Sie sah, wie sich das Glas wellte, schwarz wie brennendes Pergament wurde und Risse bekam. Ein wütender Schrei zerriß die Luft. Das Abbild im Spiegel bäumte sich auf.
Vivian verdoppelte ihre Anstrengung, schleuderte dem Spiegel alles an Haß und Gegenwehr entgegen, was sie aufbringen konnte. Sie sah, wie ihre Doppelgängerin zurücktaumelte. Ihre Konturen wurden unwirklich, verschwommen. Die unsichtbaren Fesseln zerrissen. Vivian wirbelte blitzschnell herum und stürzte zum Ausgang.
Er war nicht mehr da.
An der Stelle, an der die Tür gewesen war, befand sich ein weiterer schimmernder, rechteckiger Spiegel. Das Gesicht ihrer Doppelgängerin schien sie höhnisch daraus anzugrinsen.
Vivian prallte zurück und schlug die Hände vor die Augen. Sie mußte hier heraus, bevor die höllischen Spiegel sie vollends in ihren Bann schlugen oder sie den Verstand verlor. Erneut fuhr sie herum, hetzte wie von Furien gejagt los und stürzte blindlings um die Biegung des Ganges. Auch hier hingen Spiegel; kleine, viereckige, runde - Spiegel in allen denkbaren Größen und Formen. Dunkle, drohende Schatten schienen unter ihren Oberflächen zu brodeln. Vivian taumelte weiter, prallte gegen ein unsichtbares Hindernis und fing den Sturz ungeschickt mit den Händen auf.
Die Spiegel an den Wänden veränderten sich auf grauenhafte Weise. Vivian hatte plötzlich den Eindruck, von einer Armee schrecklicher Alptraumgestalten umgeben zu sein. Es waren immer noch ihre eigenen Spiegelbilder, doch waren sie auf so gräßliche, groteske Weise verformt, daß sie kaum noch zu erkennen waren.
Vivian schrie.
Das Geräusch hallte zwischen den engen, schimmernden Wänden wider, wurde zurückgeworfen, verzerrt und verstärkt und rollte wie apokalyptischer Donner durch den Gang; ein ungeheures, auf- und abschwellendes Dröhnen, als drehe irgendwo ein wahnsinniger Toningenieur an einem auf höchste Lautstärke geschalteten Mischpult. Vivian wälzte sich herum, versuchte aufzustehen und sank mit einem kraftlosen Keuchen zurück. Der Boden unter ihr schien sich zu bewegen und wie ein großes, metallisch schimmerndes Tier unter ihr davonzukriechen. Die Geometrie des Raumes wirkte mit einemmal irgendwie verzerrt, fremd und furchteinflößend. Direkt vor ihr klaffte plötzlich ein hoher, dreieckiger Spalt in der Wand. Vivian erhob sich mühsam auf Händen und Knien und kroch darauf zu. Der Boden bäumte sich unter ihr auf wie ein Boot auf sturmgepeitschter See, kippte plötzlich in seltsam bizarren Winkeln ab und ließ sie meterweit zurückrutschen.
Dennoch kämpfte sie verbissen weiter. Ihre Hände rutschten immer wieder auf dem fugenlosen, glatten Material des Bodens weg, aber sie kam dem Ausgang Zentimeter um Zentimeter näher. Dann schien der ganze Raum umzukippen, sich einmal um seine Achse zu drehen und in einem unmöglichen Winkel zur Ruhe zu kommen. Vivian fand sich plötzlich in der Ecke zwischen Fußboden und Wand wieder. Vor ihren Augen tanzten bunte Kreise. Schmerzen krochen wie flüssige Lava durch ihren Körper, und die Erschöpfung nagte wie ein Heer großer, unsichtbarer Ratten an ihren Kräften.