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Allmählich begann Panik in ihr aufzusteigen. Sie fühlte sich schwach, hilflos und ausgeliefert, eine willenlose Marionette, mit der Ulthar nach Belieben spielen konnte. Sie stemmte sich hoch, tastete sich an den seltsam schrägstehenden Wänden weiter und kroch mit zusammengebissenen Zähnen auf den Ausgang zu. Der Weg schien endlos zu sein. Als sie den Ausgang endlich erreicht hatte, hatte sie das Gefühl, stundenlang durch diesen überdimensionalen, stählernen Sarg gekrochen zu sein.

Vor ihr lag ein weiterer, schmaler Gang. Auch hier waren Wände, Decken und selbst der Fußboden mit unzähligen Spiegeln verkleidet. In unregelmäßigen Abständen zweigten Türen von dem Gang ab; halbgeschlossene Schiebetüren, runde, an Rattenlöcher erinnernde Stollen oder einfach gezackte Öffnungen, die wie mit roher Gewalt in die schimmernden Wände gebrochen zu sein schienen. Vivian taumelte vorwärts, öffnete wahllos eine Tür und stolperte hindurch. Auch hier waren Spiegeclass="underline" blinkende, schimmernde, spiegelnde Flächen in allen nur denkbaren Größen und Formen, tausendfacher Irrsinn, aus dem ihr eigenes, angstverzerrtes Gesicht sie anstarrte.

Sie hämmerte in blinder Verzweiflung gegen die Wand, schlug sich die Knöchel blutig und taumelte weiter. Die Gänge schienen endlos zu sein. Immer wieder taten sich neue Abzweigungen auf, prallte sie gegen unsichtbare Hindernisse oder spiegelnde Flächen, die aus dem Nichts zu materialisieren schienen.

Illusion, hämmerten Vivians Gedanken. Es war nichts als Illusion, die den Zweck hatte, ihren Verstand zu verwirren und ihre Widerstandskraft zu brechen. Aber das Wissen half ihr nichts. Sie war schon zu sehr geschwächt, um noch gegen den Wahnsinn anzukämpfen, der in diesen blinkenden, polierten Wänden lauerte.

Wieder schlug sie gegen einen der Spiegel, doch diesmal setzte er ihr keinen Widerstand entgegen. Vivians Fäuste glitten ins Leere. Sie war zu überrascht, um sofort zu reagieren. Von ihrem eigenen Schwung wurde sie vorwärtsgerissen, verlor das Gleichgewicht und stürzte vorwärts. Mit knapper Not konnte sie ihren Sturz mit den Händen abfangen und schaute sich um. Sie befand sich in einem kleinen, runden Raum, dessen Wände und Decke in mildem Licht strahlten.

Direkt vor ihr hing ein riesiger, vom Boden bis zur Decke reichender Spiegel.

Vivian sah sich selbst darin, wie sie in der Mitte des Raumes auf dem Boden lag. Sie plagte sich auf, verharrte dann und schaute sich noch einmal um.

Nicht so ihr Spiegelbild.

Vivian wußte, daß Ulthar ihr die Wahrheit gesagt hatte, und doch war es ein Schock für sie, mitanzusehen, wie ihr eigenes Spiegelbild sich selbsttätig bewegte. Es richtete sich vollends auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte spöttisch auf sie herunter.

Die Frau glich Vivian so exakt, wie ein Spiegelbild dem Original nur gleichen konnte. Ihr Gesicht, die Figur, die dunklen, losen herabfallenden Haare - wie oft schon hatte sie dieses Bild im Spiegel betrachtet? Der einzige äußerlich sichtbare Unterschied war der Blick ihrer Doppelgängerin, das triumphierende Funkeln in ihren Augen.

Und doch war die Frau eine Fremde.

Vivian spürte es. Ein ähnliches Gefühl hatte sie empfunden, als sie gegen die Spiegelgeschöpfe auf Conellys Party gekämpft hatte, und doch war es anders. Bei den übrigen Spiegelwesen hatte sie die Bösartigkeit gespürt, die Ulthar aus den Originalen herausgefiltert hatte, aber auch die seelenlose Unvollkommenheit der Geschöpfe. Die Frau hier im Spiegel war nicht einfach nur ein negatives Abbild der echten Vivian Taylor, sondern eine vollkommen eigenständige Person.

Melissa.

Kalt lächelte sie auf Vivian herunter, hob dann die Hand und winkte ihr auffordernd zu. Vivian kam gegen den fremden Einfluß nicht an. Sie stand auf und ging mit steifen, ungelenken Schritten auf den Spiegel zu. Hinter ihrer Stirn tobte ein Chaos. Was bislang in diesem Labyrinth geschehen war, hatte nur dem Zweck gedient, sie zu schwächen. Sie war blindlings in Ulthars Falle getappt, hatte ihre Kraft vergeudet und sich verausgabt. Jetzt war sie bereits zu schwach, um sich noch wirkungsvoll zu wehren.

Ihre Finger berührten das Glas. Es fühlte sich warm und anschmiegsam an, fast wie ein lebendiges, atmendes Wesen. Vivian spürte, wie etwas nach ihr griff, mit unsichtbaren Fingern nach ihrem Geist tastete, während sie in den Spiegel hineingezogen wurde, und ihr Ebenbild sich anschickte, ihren Platz einzunehmen. Für einen winzigen Sekundenbruchteil wurden sie eins, vereinigten sich ihre Körper und wurden zu einem flammenden, gleißenden Ball gegensätzlicher Energie, und diesen Augenblick nutzte Vivian aus. Sie war um einen Winzigkeit schneller als ihr Ebenbild, griff auf ihre gemeinsame paranormale Kraft zu und schlug mit aller geistiger Macht zu.

Sie hörte Melissas gellenden Schrei direkt in ihrem Geist, und im gleichen Moment schien eine sengende, sonnenhelle Lohe ihren Verstand zu verbrennen. Sie taumelte zurück, schlug in irrsinniger Qual die Hände gegen die Schläfen und fiel zu Boden. Sekunden, bevor sie das Bewußtsein verlor, sah sie noch, wie ihr Spiegelbild von einem unsichtbaren Wirbel erfaßt und in sein gläsernes Gefängnis zurückgerissen wurde.

Dann versank die Welt um sie herum in gnädiger Dunkelheit.

Brandgeruch hing noch in der Luft, als sie erwachte, und verriet Vivian, daß sie nicht lange bewußtlos gewesen sein konnte. Sie blinzelte, öffnete die Augen und sah sich verwirrt um. Der Raum hatte sich völlig verändert. Die ehemals makellosen Wände waren fleckig und geschwärzt; in der Decke gähnte ein fast metergroßes Loch, durch das bleiches Morgenlicht hereinsickerte. Ihr Blick wanderte weiter und tastete fast ängstlich nach dem Spiegel.

Er war zerbrochen.

Der dünne, kostbare Rahmen war wie von einer ungeheuren Gewalt zerfetzt worden, und die Trümmer des Glases waren über den ganzen Raum verteilt, als wäre er von einer fürchterlichen Explosion zerrissen worden.

Von ihrer Doppelgängerin war keine Spur mehr zu entdecken.

Vivian stand mit schleppenden Bewegungen auf. Sie fühlte sich immer noch müde und ausgelaugt. Blut aus unzähligen winzigen Schnittwunden lief über ihr Gesicht und ihre Hände, und in ihrem Kopf saß ein dumpfer Schmerz, der jeden Schritt zur Qual werden ließ.

Aber sie wußte jetzt, daß Ulthar nicht unbesiegbar war. Selbst den Fähigkeiten seiner magischen Spiegel waren Grenzen gesetzt, und das bedeutete, daß sie noch eine Chance hatte. Sie durfte nicht aufgeben.

Vivian sah sich vergeblich nach einem Ausgang um und schaute stirnrunzelnd zu dem Loch in der Decke hinauf. Der Raum war niedrig - ihre ausgestreckten Fingerspitzen berührten fast die gezackten Ränder des Loches. Sie ging in die Knie, federte zwei-, dreimal und stieß sich dann mit aller Kraft ab.

Die Sonne stand als grelleuchtender Punkt am Horizont und überzog den Himmel mit einem flammenden Feuerwerk aus Rot und Gold, als sie ins Freie kletterte und auf den Boden hinuntersprang. Nachdem sie ein paar Schritte gelaufen war, blieb sie stehen und schaute sich noch ein letztes Mal kurz nach dem Gebäude um.

Es wirkte schäbig; ein heruntergekommener Schuppen, an dem der Zahn der Zeit bereits ebenso genagt hatte wie an den umliegenden Häusern und Buden.

Aber die Gefahr war noch längst nicht vorbei. Eine Tür in der Seitenwand des Gebäudes wurde geöffnet. Ein junger Mann trat heraus, eine von Ulthars Spiegelkreaturen, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht und schaute sich suchend um, bevor er vollends ins Freie trat. Weitere folgten ihm.