Vivian begann zu rennen, tauchte in eine schmale Gasse ein und hetzte sie entlang. Sie entdeckte eine Lücke in einem morschen Bretterzaun und zwängte sich durch eine Lücke in den halbvermoderten Brettern. Vor ihr erstreckte sich ein Hof. Noch bevor sie ihn ganz überwunden hatte, tauchte einer ihrer Verfolger bereits im Zaun auf. Blindlings rannte sie in eine weitere Gasse, wechselte mehrmals die Richtung, bis sie schließlich die halbgeöffnete Tür eines Schuppens erreichte und ohne zu zögern in das Gebäude hineinstürmte.
Die Schritte waren jetzt ganz nah; das Knirschen von Kies unter harten Schuhsohlen, das Rascheln von Kleidung, dazwischen die hektischen, stoßweisen Atemzüge ihres Verfolgers.
Vivian schmiegte sich eng an die dünne Bretterwand. Der Kistenstapel neben ihr warf einen scharf abgegrenzten Schlagschatten, aber sie wußte, daß er nicht ausreichen würde, sie zu verbergen. Ihre Hände zitterten unmerklich, und ihr Herz hämmerte so laut, daß sie für einen Moment befürchtete, der Mann draußen müsse es hören. Ihr Blick saugte sich für einen Moment wie hypnotisiert am hellen Rechteck der Türöffnung fest, dann sah sie sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit oder wenigstens einem besseren Versteck um. Der Raum war winzig; vielleicht zwei mal drei Meter groß und mit ausrangiertem Mobiliar, Kisten und Kartons vollgestopft. Eine fingerdicke Staubschicht hatte sich wie eine graue, flockige Decke über den Boden und die Ansammlung ausrangierter und vergessener Gegenstände ausgebreitet. Die Luft schmeckte bitter - nach Moder, Verfall und Vergessen. Mühsam mußte Vivian einen Hustenreiz unterdrücken.
Sie war eine verdammte Närrin gewesen, sich im Ernst einzubilden, entkommen zu können. Wahrscheinlich hatte Ulthar selbst sogar ihre Flucht geplant. Gegen seinen Willen hätte sie das Spiegelkabinett erst gar nicht verlassen können. Es hätte ihr spätestens in dem Moment klar sein müssen, als seine Häscher genau im richtigen Moment aufgetaucht waren, dachte sie bitter. Nicht so früh, daß eine Flucht aussichtslos erschien, aber früh genug, um ihr keine Chance zu lassen, wirklich davonzukommen. Der wahnsinnige Magier trieb nur ein böses Spiel mit ihr. Vermutlich amüsierte er sich köstlich über ihre Bemühungen. Aber die Erkenntnis kam zu spät, und noch war sie nicht bereit, einfach aufzugeben.
Vor ihrem geistigen Auge stand immer noch das Bild des scheinbar endlosen Labyrinths, in dem Hunderte, vielleicht Tausende der Kreaturen auf die Befehle ihres Herrn warteten. Jedes dieser Wesen war einmal ein Mensch gewesen, doch ein Blick in Ulthars magische Spiegel hatte sie zu dem werden lassen, was sie jetzt waren: Ungeheuer. Negative Duplikate ihrer früheren Persönlichkeiten. Spiegelbilder, in denen jede positive Eigenschaft, jedes bißchen Menschlichkeit und Liebe ins Gegenteil verkehrt worden waren und die Ulthar sklavisch ergeben dienten.
So wie Mark.
Vivian spürte einen dumpfen, quälenden Schmerz, als sie an ihn zurückdachte. Ihr war es gelungen, Melissas Erweckung zu verhindern und Ulthar wenigstens für den Augenblick zu entkommen, aber Mark ... Sie hatte ihn seit der verhängnisvollen Party bei Bürgermeister Conelly nicht mehr gesehen, aber sie zweifelte nicht daran, daß Ulthar auch ihn in seine Gewalt gebracht hatte. Wahrscheinlich existierten in diesem Augenblick bereits zwei Marks: einen, der in der zweidimensionalen Hölle eines Spiegels gefangen war, und den zweiten, negativen, der seine Stelle in der realen Welt eingenommen hatte.
Wenn es überhaupt eine Hoffnung für ihn gab, dann nur durch sie. Schon seinetwegen durfte sie nicht aufgeben.
Die Schritte verstummten, als der Mann vor dem Schuppen stehenblieb.
Vivians Herz machte einen spürbaren Satz. Der Raum hatte keinen zweiten Ausgang. Wenn die Kreatur auf den Gedanken kam, auch nur einen flüchtigen Blick durch die Tür zu werfen, war sie verloren. Sie hatte sich selbst in eine perfekte Falle hineinmanövriert. Lautlos richtete sie sich auf und versuchte, durch die Ritzen in der papierdünnen Bretterwand einen Blick nach draußen zu werfen.
Es war früher Morgen, aber hier auf Coney Island war das Leben noch nicht erwacht. Es würde nie mehr erwachen. Der Vergnügungspark war vor vierzig Jahren in einen Dornröschenschlaf versunken, aus dem ihn kein verzauberter Prinz wieder wachküssen würde. Alles, was hier noch lebte, waren Ratten, Ungeziefer und ein paar streunende Hunde und Katzen - und Ulthars Kreaturen. Auf Hilfe durfte sie nicht hoffen.
Vivian atmete innerlich auf, als der Verfolger sich umdrehte und mit langsamen Schritten davonging. Bei einer offenen Konfrontation hätte sie keine Chance gehabt.
Sie drehte sich um, schlich zur Tür und spähte vorsichtig hinaus. Keiner der Verfolger war in Sicht. Mit etwas Glück konnte sie diese Mausefalle verlassen und irgendwo im Labyrinth des verlassenen Vergnügungsparks untertauchen. Sie atmete tief ein und spurtete los. Das Geräusch ihrer Schritte schien überlaut zwischen den leerstehenden Gebäuden widerzuhallen, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, von einer Million unsichtbarer Augenpaare angestarrt zu werden. Aber sie erreichte die Gasse unbehelligt. Für eine halbe Sekunde blieb sie schweratmend stehen, sah sich gehetzt um und rüttelte prüfend an einer fleckigen Feuerschutztür. Sie war verschlossen, aber das rostzerfressene Schloß zerbrach unter ihren Händen. Sie öffnete die Tür und schlüpfte in das Gebäude.
Das Innere war überraschend kühl und hell. Das Dach existierte praktisch nicht mehr. Die Stützbalken waren eingebrochen und unter der Last der Dachschindeln wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten zusammengefallen. Sie schloß die Tür hinter sich und ging mit schnellen Schritten durch den Raum. Es gab einen zweiten Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite und eine weitere, verzogene Tür, die in einen stockfinsteren Raum führte. Eine Ratte schoß mit einem schrillen Schrei über Vivians Füße und verschwand in dem Trümmerhaufen, als sie die Tür öffnete.
Vivian schlug die Hand vor den Mund und unterdrückte im letzten Augenblick einen erschrockenen Aufschrei. Sie mußte vorsichtig sein. Sie wußte nicht, ob die Spiegelwesen über schärfere Sinne als ein normaler Mensch verfügten, aber in jedem Fall mußte auf dem fast totenstillen Gelände jeder Laut deutlich zu hören sein.
Sie ging zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite und spähte auf den Hof hinaus. Hinter dem Gebäude lag ein runder, vielleicht zehn Meter durchmessender Platz, der von den Resten einer ehemals rotweiß gestrichenen Barriere eingerahmt wurde. Vielleicht waren hier früher einmal Kinder für ein paar Cents im Kreis herumgeritten, oder Elefanten und Bären hatten ihre Kunststücke vorgeführt. Jetzt war es nichts als eine runde, schlammige Fläche, auf der es absolut keine Deckung gab.
Sie trat in das Gebäude zurück, sah sich suchend um und stieg schließlich mit entschlossenen Bewegungen auf den Trümmerberg, der von den Resten der zusammengestürzten Dachkonstruktion und der Einrichtung gebildet wurde. Der ausgezackte Rand des Loches war nur wenige Zentimeter von ihren Fingerspitzen entfernt, als sie die Arme ausstreckte. Sie federte hoch, bekam ein Stück rostiges Blech zu fassen und zog sich vorsichtig auf das sanft geneigte Dach hinauf. Irgend etwas schnitt heiß und schmerzhaft in ihre Handfläche, aber sie ignorierte den Schmerz. Gespannt spähte sie in die Runde. Von hier aus hatte sie einen besseren Überblick als vom Boden. Dieser Teil Coney Islands glich auf bedrückende Weise jenen Bildern von ausgebombten Städten, die man manchmal in alten Magazinen oder Filmen sieht. Es war, als läge ein dunkler, drohender Schatten über der Halbinsel. Vivian schüttelte sich. Selbst im hellen Tageslicht war es ein unheimlicher Anblick.
Vivian biß sich nachdenklich auf die Lippen. Sie saß in der Falle. Zwei von Ulthars Spiegelkreaturen bewegten sich rechts von ihr zwischen den Gebäuden, der Rest war nicht zu sehen. Wahrscheinlich, überlegte Vivian, hatten sie sich in mehrere Gruppen aufgeteilt; eine, die das Gelände durchkämmte, und ein oder zwei andere, die alle möglichen Fluchtwege besetzt hielten. Ulthar hatte genügend Leute, um sämtliche Verbindungen der Halbinsel zum Festland überwachen zu lassen, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß eine oder mehrere von seinen Kreaturen sie dort erwarten würden, wenn sie wirklich so dumm wäre, Coney Island auf diesem Weg verlassen zu wollen.