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Ein schriller, krächzender Schrei ließ Vivian zusammenzucken. Sie legte den Kopf in den Nacken, blinzelte und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Himmel ab. Vor wenigen Augenblicken war ein Möwenschwarm kreischend und zeternd über die Halbinsel hinweggezogen, aber jetzt war der Himmel über dem verlassenen Areal leer bis auf einen winzigen schwarzen Punkt, der mit trägen Flügelschlägen über dem Meer kreiste.

Vivians Blick löste sich von dem winzigen Fleck und tastete auf die blaue, spiegelnde Fläche des Ozeans hinaus. Bis zum Festland hinüber war es nicht besonders weit - für eine geübte Schwimmerin eine Kleinigkeit. Wenn es ihr gelang, unbemerkt zum Ufer und ins Wasser hinein zu gelangen, dann hatte sie eine gute Chance.

Sie sah sich blitzschnell nach rechts und links um und huschte los, wobei sie geschickt jede Deckung ausnutzte und freie Flächen nach Möglichkeit mied. Ihre einzige Chance bestand darin, unentdeckt zu bleiben. Ein Wettrennen mit den Spiegelwesen würde sie verlieren.

Erneut zerschnitt der gellende Schrei die Luft. Vivian warf im Laufen den Kopf in den Nacken und sah empor. Der dunkle Punkt hatte seine Kreise unterbrochen und schien für einen Augenblick reglos in der Luft zu hängen. Irgend etwas an seinem Aussehen irritierte sie. Er war noch zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können, aber seine Konturen wirkten falsch; verzerrt, so, als hätte jemand mit ein paar lieblosen Strichen die aberwitzige Karikatur eines Vogels gezeichnet und ihr Leben eingehaucht.

Im Schutz eines windschiefen Gebäudes blieb sie einen Augenblick stehen und rang keuchend nach Atem. Ihr Herz hämmerte qualvoll. Die Anstrengungen der letzten Nacht forderten ihren Tribut. Vivian war durchaus sportlich, aber der irrsinnige Kampf in Ulthars Kabinett hatte ihre Kraftreserven vollkommen aufgebraucht. Allmählich kamen ihr Zweifel, ob sie die Strecke bis zum Ufer wirklich schaffen würde.

Zum dritten Mal durchschnitt der spitze, kehlige Schrei die Luft. Vivian schaute hoch und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als sie sah, was da über ihr kreiste.

Das Wesen war schwer zu beschreiben. Sein Körper glich dem einer Fledermaus - ein langer, dunkler, mit drahtigem Fell besetzter Leib, der irgendwie plump, wie falsch zusammengesetzt wirkte. Die Flügel waren ledrig, grob strukturierte Schwingen aus einem zähen, dunkelbraunem Material, das sich über einem nahezu lächerlich dünnen Knochengerüst spannte. Sie schätzte die Spannweite der Flügel auf mindestens sechs Meter. Das schrecklichste aber war der Kopf. Kleine, boshafte Augen musterten Vivian über einem schrecklichen Krokodilsschnabel, in dem eine Doppelreihe mörderischer Reißzähne funkelte. Der kleine, runde Schädel endete in einem messerscharfen, axtähnlichen Fortsatz, der der alptraumhaften Erscheinung etwas Urzeitliches verlieh.

Entsetzt starrte Vivian die Kreatur an. Nach allem, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte, hatte sie nicht geglaubt, daß irgend etwas sie noch schockieren könnte, doch das war ein Irrtum gewesen. Sie hatte ein solches Wesen noch nie zuvor gesehen, doch sie war sich sicher, daß es keinen natürlichen Ursprung hatte, sondern eine magische Schöpfung war, und das bedeutete, daß nur Ulthar es heraufbeschworen haben konnte. Anscheinend beschränkte sich die Macht des Magiers nicht nur auf seine Spiegel und die Fähigkeit, durch diese perfekte Ebenbilder von Menschen zu erschaffen, sondern seine Kräfte waren weit größer, als sie bislang angenommen hatte.

Wie, um alles in der Welt, konnte sie unter diesen Umständen noch hoffen, ihn zu besiegen?

Rückwärts gehend wich Vivian in den Schatten eines Gebäudes zurück, jederzeit darauf gefaßt, das Ungeheuer herunterstoßen und angreifen zu sehen. Aber es schien nichts dergleichen vorzuhaben, sondern begnügte sich damit, seine Kreise über Vivian zu ziehen und lautstark und mißtönend zu kreischen, um ihren übrigen Verfolgern auf diese Art zu verraten, wo sie sich versteckte.

Nur Sekunden später erschien einer der Männer am unteren Ende der Gasse. Ein häßliches, zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht, als er Vivian sah. Dann setzte er sich in Bewegung und rannte mit weitausgreifenden Schritten auf sein vermeintlich wehrloses Opfer zu.

Vivian wich einen halben Schritt zurück, als das Spiegelwesen heranstürmte. Aus den Augenwinkeln hatte sie bemerkt, daß die Tür des Gebäudes rechts neben ihr lose in den Angeln hing. Sie wartete mit erstaunlicher Kaltblütigkeit, bis der Mann auf wenige Schritte herangekommen war, ehe sie blitzschnell zur Wand zurückwich und gleichzeitig die Tür mit aller Kraft auf stieß.

Ihr Verfolger bemerkte die Gefahr eine halbe Sekunde zu spät. Er versuchte noch auszuweichen und die Arme schützend vors Gesicht zu reißen, aber die aufschwingende Metalltür schnitt ihm in einem sauberen Halbkreis den Weg ab. Das rostige Metall dröhnte unter dem Aufprall des schweren Körpers. Der Mann taumelte zurück, verdrehte die Augen und brach mit seltsam verrenkten Gliedern zusammen.

Vivian vergeudete keine Sekunde damit, sich über ihren Sieg zu freuen. Aus unangenehmer Erfahrung wußte sie, daß sie die lebenden Spiegelbilder auf diese Weise vielleicht aufhalten, aber nicht besiegen konnte. Sie fuhr herum und rannte in die Richtung, aus der der Mann gekommen war. Hinter ihr zerschnitten die wütenden Schreie der Flugbestie die Luft.

Sie überquerte einen weiten, leeren Platz, wandte sich nach rechts und stürzte ziellos in eine Gasse. Ihr Herz hämmerte laut und schmerzhaft; sie hatte Seitenstiche und bekam kaum noch Luft, und in ihrem Kopf machte sich allmählich ein dumpfer Schmerz bemerkbar, der einen qualvollen Gegentakt zum Rhythmus ihrer Schritte zu schlagen schien. Lange würde sie diese sinnlose Flucht nicht mehr durchhalten. Sie mußte zum Strand hinaus, irgendwie.

Eine knapp mannshohe Mauer tauchte vor ihr auf. Vivian packte die Mauerkrone, schwang sich hinauf und sprang auf der anderen Seite wieder zu Boden. Unter dem überhängenden Dach einer Verkaufsbude blieb sie schweratmend stehen.

Auf der anderen Seite des Zauns wurden wütende Stimmen laut, dann das Trappeln zahlreicher Füße, untermalt von den krächzenden Schreien des fliegenden Ungeheuers. Es schien sie ebenfalls aus dem Blickfeld verloren zu haben, doch Vivian wußte, daß ihr Versteck nur eine höchst zweifelhafte Sicherheit bot. Die fliegende Bestie brauchte nur eine Runde über der Insel zu drehen, um sie wieder aufzustöbern. Es war sinnlos, weiter zu fliehen. Sie mußte sich ein Versteck suchen, in dem sie sich bis zum Einbruch der Nacht verbergen konnte. In der Dunkelheit hatte sie vielleicht eine Chance, den Häschern zu entkommen.

Vor ihr strebte die zerfressene Flanke eines mächtigen Betonsockels in die Höhe. Sie legte den Kopf in den Nacken, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht und musterte zweifelnd das rostige Eisenskelett, das vor ihr in den Himmel ragte. Das Riesenrad. Sie mußte sich unmittelbar im Zentrum des Parks befinden. Ihre Flucht hatte sie fast zu Ulthars Kabinett zurückgeführt.

Mit einer entschlossenen Bewegung stieß sie sich vom Zaun ab und lief an der Mauerkante entlang, bis sie eine altersschwache Eisenleiter erreichte. Ohne zu zögern, griff sie nach den Sprossen und schwang sich empor. Die Leiter ächzte vernehmlich unter ihrem Gewicht, aber sie hielt.

Vivian stürmte weiter, ohne sich umzusehen. Eine der Gondeln war heruntergestürzt und lag als Trümmerhaufen direkt vor ihr. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich darin zu verbergen, verwarf ihn aber sofort wieder. Ulthars Spiegelgeschöpfe würden jeden Quadratmeter des Platzes absuchen, wenn sie sie nicht fanden.

Sie lief um den Trümmerhaufen herum, tauchte unter der Absperrkette hindurch und griff nach einem Stahlträger. Das stählerne Rund des Riesenrades ragte scheinbar endlos über ihr empor. Schon als sie nur hinaufschaute, wurde ihr bereits schwindelig, und unter normalen Umständen hätte ihre Höhenangst sie einen weiten Bogen um das Gebilde schlagen lassen. Bereits bei dem bloßen Gedanken, sich in einer der Gondeln zu einer Runde in die Höhe tragen zu lassen, wie manche Menschen es auf Rummelplätzen taten und dabei offenbar auch noch Vergnügen empfanden, rebellierte ihr Magen. Aber schließlich hatte sie nichts dergleichen vor, sondern suchte nur nach einem Platz, wo sie sich für ein paar Stunden vor ihren Verfolgern verbergen konnte.