Vorsichtig begann sie der Rundung des Riesenrades zu folgen, wobei sie sich bemühte, nicht nach unten zu schauen. Das Eisen war rostig und alt; ihre Füße fanden ausreichenden Halt. Die nächste Gondel hing etwa zwei Meter über dem Boden; ein runder, mit abblätterndem Lack bedeckter Metalltrog, der von einer Art eisernem Baldachin überdeckt wurde und so auch nach oben Sichtschutz bot.
Ein perfektes Versteck. Natürlich bestand die Gefahr, daß Ulthars Leute auch hier nach ihr suchen würden, aber dieses Risiko mußte sie eingehen. Sie stieg mit klopfendem Herzen höher. Wenn einer der Männer auch nur einen zufälligen Blick nach oben warf, war sie verloren.
Aber sie hatte Glück. Unbehelligt erreichte sie die Gondel, zog sich mit einem entschlossenen Ruck über die Brüstung und ließ sich schweratmend ins Innere fallen. Es gab ein paar alte, fleckige Holzbänke, die der Zahn der Zeit noch nicht bis zur Gänze zernagt hatte, und auf dem Boden lag eine zusammengeknüllte, fleckige Zeltplane.
Vivian kroch seufzend unter eine Bank, zog sicherheitshalber noch die Zeltplane über sich und schloß für einen Moment die Augen. Müdigkeit und Erschöpfung schlugen wie eine warme, verlockende Welle über ihr zusammen. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft sie war. Ihre Glieder begannen zu zittern.
Einige Minuten lang genoß sie es, nur dazuliegen, sich zu entspannen und zu spüren, wie ihre Kräfte langsam zurückkehrten. Dann lief plötzlich ein sanftes, kaum merkliches Beben durch die Gondel, gefolgt von einem hohen, kreischenden Ton, als würde irgendwo eine uralte, längst verrostete Maschine in Gang gesetzt.
Vivian schrak auf, schleuderte die Zeltplane beiseite und lugte vorsichtig über den Rand der Gondel.
Ein eisiger Windstoß traf die Gondel, drehte sie langsam um ihre Achse und ließ sie urplötzlich zurückschnappen. Das metallische Kreischen wiederholte sich. Der Boden sackte wie in Zeitlupe unter ihr weg. Die Gebäude, das Meer und der Horizont befanden sich in schaukelnder Bewegung.
Langsam, ganz langsam nur, begriff Vivian, was geschehen war.
Das Riesenrad hatte sich in Bewegung gesetzt.
10
In der Eingangshalle brannte Licht, als Jeremy Cramer nach Hause kam. Er parkte den Wagen vor dem Haus, ohne sich wie üblich die Mühe zu machen, ihn in die Garage zu fahren, stieg aus und warf die Tür achtlos hinter sich ins Schloß, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, immer pedantisch abzuschließen.
Als er quer über den gepflegten Rasen auf die Haustür zuging, bewegte sich ein Schatten hinter der Gardine. Cramer zögerte unmerklich im Schritt und runzelte die Stirn. Es entsprach eigentlich nicht Mary-Lous Gewohnheiten, auf ihn zu warten. Er kam oft spät nach Hause, und seine Frau hatte sich schon lange damit abgefunden, ihn manchmal wochenlang nur zum Frühstück zu Gesicht zu bekommen. Und oft genug nicht einmal das.
Mary-Lou öffnete ihm die Tür, als er nach dem Schlüssel suchte. Sie sah müde und übernächtigt aus. Unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Ringe, ihr dunkelblondes Haar wirkte strähnig, und ihre Haut hatte einen ungesunden grauen Schimmer. Die Falten, die sich in den letzten Jahren immer deutlicher in ihrem Gesicht bemerkbar machten und sich auch mit Make-up nicht mehr völlig verdecken ließen, schienen sich nicht nur vertieft, sondern auch verdoppelt zu haben.
»Du bist noch auf?« fragte er. Seine Stimme wirkte kalt und emotionslos, aber wenn Mary-Lou es bemerkte, dann verbarg sie es geschickt.
»Ich ... habe auf dich gewartet«, sagte sie schleppend.
Cramer warf seinen Hut mit gekonntem Schwung auf die Garderobe, schob die Tür hinter sich ins Schloß und ging mit schnellen Schritten an Mary-Lou vorbei. »Warum?« fragte er, ohne sie anzusehen.
Mary-Lou starrte ihm einige Sekunden lang fassungslos nach, als er in die Küche ging, dann folgte sie ihm langsam. Sie wußte seit langem, daß ihre Ehe im Grunde zerrüttet war, aber noch nie war es ihr so deutlich geworden wie in diesen Minuten. Jeremy war mit seinem Beruf verheiratet, mehr als mit ihr. Damit hatte sie sich abgefunden, und obwohl sie ihn meist nicht länger als ein paar Minuten am Tag sah, hatte sie dennoch nie aufgehört, ihn zu lieben. Was sie Vivian Taylor darüber gesagt hatte, war die reine Wahrheit gewesen. Wenigstens diese wenigen Minuten waren Jeremy und ihr immer noch geblieben, doch nicht einmal mehr daran schien ihm nun noch etwas zu liegen. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn er wütend gewesen wäre, wenn er sie angebrüllt hätte, weil er beruflich in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte und sich auf diese Art abreagieren wollte, aber alles, was ihr entgegenschlug, war Gleichgültigkeit.
Zum ersten Mal kam Mary-Lou Cramer der Gedanke, daß es eine andere Frau geben könnte, doch sie verwarf ihn sofort wieder. Jeremy war nicht der Mann für Seitensprünge, alles, was ihn interessierte, war seine Arbeit. Und doch ...
»Ich habe ein paarmal versucht, dich bei Conelly anzurufen«, sagte sie. Sie versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen, konnte aber nicht verhindern, daß in ihrer Stimme leichter Vorwurf mitklang. »Es ist niemand ans Telefon gegangen.«
Jeremy öffnete die Kühlschranktür und griff nach einer Milchflasche. »Wahrscheinlich hat niemand das Läuten gehört«, sagte er achselzuckend. »Du weißt ja, wie das auf solchen Partys ist. Hunderte von Leuten, ein Heidenlärm - die haben was Besseres zu tun, als ans Telefon zu gehen.« Er riß den Verschluß von der Flasche, warf ihn achtlos zu Boden und trank mit gierigen, tiefen Zügen. »Warum wolltest du mich überhaupt anrufen?« fragte er, ohne sich umzudrehen.
Er hörte, wie Mary-Lou einen Stuhl zurückschob und sich setzte. »Es ist ... eigentlich nichts ...« Ihre Stimme klang müde, unsicher. Sie wollte nicht von dem erzählen, was im Haus der Mastertons geschehen war. »Was ist mit dem Spiegel geschehen?«
»Welchen Spiegel meinst du?«
»Den Spiegel im Schlafzimmer. Er ist zerbrochen.« Sie lachte nervös. »Ich war ziemlich erschrocken, als ich es bemerkte. Im ersten Moment dachte ich, jemand hätte eingebrochen. Aber das ist ja wohl nicht möglich.«
»Nein, das ist nicht möglich.« Cramer drehte sich um, nahm einen weiteren Schluck aus der Milchflasche und lehnte sich gegen die Kühlschranktür. »Du siehst müde aus«, sagte er. »Geh schlafen. Bist du die ganze Nacht wach geblieben?« Seine Stimme hörte sich nicht so an, als ob es ihn wirklich interessieren würde.
»Nein. Ich ... ich habe im Wohnzimmer geschlafen. Im Sessel.«
»Wegen eines zerbrochenen Spiegels?« fragte Cramer.
»Ich war beunruhigt, und als ich dich dann nicht erreichen konnte ...« Sie brach ab, rang verlegen mit den Händen und sah ihren Mann fragend an. »Was ist passiert? Das Zimmer sieht aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte.«
Jeremy zuckte erneut mit den Achseln, eine Geste, die sie früher nur selten bei ihm bemerkt hatte. »Ich bin gestolpert und mit dem Ellbogen gegen die Frisierkommode gefallen«, sagte er. »Reicht dir das als Erklärung?«
Mary-Lou antwortete nicht. Ihr Blick tastete unsicher über das Gesicht ihres Mannes, dann über seine Hände und blieb schließlich an dem achtlos weggeworfenen Milchverschluß hängen. Irgend etwas an Jeremy störte sie. Es war nicht nur seine Gleichgültigkeit, wie sie sich einen Moment lang einzureden versuchte. Er wirkte ... fremd. Sie versuchte, in seine Augen zu schauen, und mußte feststellen, daß sie es nicht konnte.