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Jeremys Blick war der eines Fremden. Sie hatte es gleich gespürt, schon in der ersten Sekunde, als er zur Tür hereingekommen war. Ihr Mann hatte sich verändert. Nicht äußerlich jedenfalls. Aber sie spürte einfach, daß mit Jeremy eine Veränderung vor sich gegangen war.

»Du solltest wirklich ins Bett gehen«, sagte er. »Es reicht, wenn ich mir die Nächte um die Ohren schlagen muß, geh nach oben.« Der Ton, in dem er die Worte aussprach, machte ihren freundlichen Inhalt zunichte. Es war kein gutgemeinter Rat, sondern ein Befehl.

Mary-Lou stand zögernd auf. »Ich ...« Sie verstummte, als sie der Blick seiner grauen Augen traf. Sie waren kalt wie Glasmurmeln. In ihrer Kehle schien plötzlich ein harter, bitterer Kloß zu sitzen.

Und plötzlich hatte sie Angst vor ihrem eigenen Mann.

Sie drehte sich gehorsam um, schlurfte zur Tür und ging mit schleppenden Schritten die Treppe hinauf. Die Spiegelscherben auf dem Fußboden schienen sie höhnisch anzugrinsen, als sie das Schlafzimmer betrat.

Später, als sie im Bett lag und im Dunkeln die Decke anstarrte, hörte sie Jeremy irgendwo im Haus rumoren. Das Geräusch schien aus dem Bad zu kommen.

Es war das Klirren von Glas.

Nach einigen Minuten kehrte wieder Ruhe ein, aber Mary-Lou fand in dieser Nacht keinen Schlaf mehr. Eine Zeitlang wälzte sie sich unruhig im Bett und versuchte, eine Erklärung für die seltsame Unruhe zu finden, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Der Gedanke war verrückt - aber während sie die geschlossene Schlafzimmertür anstarrte und darauf wartete, daß Jeremy erschien, vertiefte sich in ihr immer mehr die Überzeugung, daß dieser Mann ein Fremder war.

Sie fühlte es. Sie spürte es mit dem untrüglichen Gespür einer Frau, die seit fünfundzwanzig Jahren mit dem gleichen Mann zusammenlebte, die jede seiner Reaktionen, seine Art zu reden, sich zu bewegen, kannte. Vor ihrem inneren Auge erschien wieder die kleine, banale Szene, wie Jeremy die Milchflasche aufriß und den Verschluß achtlos zu Boden fallen ließ. Jeremy war ein Pedant, den jede Kleinigkeit störte, die sich nicht exakt am richtigen Platz befand. Irgend etwas einfach in der Gegend herumzuwerfen war ein Verhalten, das absolut nicht zu ihm paßte. Aber das war nur eine Kleinigkeit, viel schlimmer war sein Verhalten ihr gegenüber, denn es entsprach ganz und gar nicht seiner Art, so grob mit ihr zu sprechen. Es war nicht einmal so sehr das, was er gesagt hatte, sondern der Tonfall, der sie getroffen hatte.

Sie seufzte, schwang die Beine aus dem Bett und tastete im Dunkeln nach den Zigaretten auf dem Nachttisch. Sie hörte Jeremy im Erdgeschoß rumoren; Türen klappten, ein Möbelstück wurde lautstark gerückt, dann hörte sie seine Stimme, als er im Wohnzimmer mit irgend jemandem telefonierte. Mary Lou steckte eine Zigarette zwischen die Lippen, ließ das Feuerzeug aufschnappen und zog den Rauch fast gierig ein. Jeremy mochte es nicht, wenn sie hier im Schlafzimmer rauchte. Aber sie brauchte einfach etwas, mit dem sich ihre Hände beschäftigen konnten.

Unten klappte eine Tür. Mary-Lou stand auf, ging zum Fenster und schob die Jalousien auseinander. Ihr Mann ging mit schnellen Schritten über den Rasen, öffnete die Wagentür und ließ sich hinter das Steuer fallen. Augenblicke später war er abgefahren.

Sie zögerte noch, das Schlafzimmer zu verlassen. Erst, als der Wagen um die Ecke gebogen und außer Sichtweite war, drehte sie sich um, ging zur Tür und ins Erdgeschoß hinunter. Das Haus war seltsam still. Die Kinder waren im Ferienlager, und auch von den beiden Katzen, die normalerweise mit dem ersten Sonnenstrahl erwachten, fehlte jede Spur. Sie ging unschlüssig ins Wohnzimmer hinüber, sah sich prüfend um, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte, und schlenderte schließlich in die Diele.

Ihr Blick fiel auf einen rechteckigen, hellen Fleck über der Garderobe, wo gestern abend noch der Spiegel gehangen hatte. Jetzt war er fort. Jeremy mußte ihn entfernt haben.

Mary-Lou starrte den Fleck verblüfft an und versuchte, eine Erklärung zu finden. Die Geräusche, die sie beim Hinaufgehen gehört hatte, fielen ihr wieder ein. Sie drehte sich um, eilte ins Wohnzimmer zurück, dann ins Bad, in die Gästetoilette ...

Fünf Minuten später hatte sie das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt, aber das Rätsel war dadurch eher größer geworden.

Jeremy hatte sämtliche Spiegel aus dem Haus entfernt.

Nackte Panik wallte in Vivian empor. Ihre Hände verkrampften sich um den schartigen Rand der Gondel, und sie begann zu schreien, während der Boden langsam unter ihr wegsackte und die Menschen und Gebäude auf Spielzeuggröße zusammenschrumpften. Der Wind schien mit einemmal wesentlich kälter geworden zu sein, und sein Heulen steigerte sich in ihren Ohren zu einem höhnischen Lachen.

Das Riesenrad kam mit fürchterlichem Knirschen zum Stehen, als irgendwo in dem altersschwachen Getriebe ein Zahnrad endgültig seinen Geist aufgab und blockierte. Ein harter Ruck fuhr durch die Stahlkonstruktion, schleuderte Vivian zu Boden und ließ das gewaltige Gebilde wie ein waidwundes Tier erzittern. Die Gondel schaukelte wild, als Vivian wieder hochkam. Der Horizont führte einen irren Tanz um das kreisende Gefährt auf, und irgendwo in dem gewaltigen Rund des Riesenrades löste sich durch die Erschütterung ein Teil und stürzte polternd und krachend in die Tiefe. Vivian hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben.

Schwindel überschwemmte ihren Geist wie eine gewaltige Woge. Sie hatte das Gefühl zu fallen und glaubte, sich übergeben zu müssen. Alles in ihr verkrampfte sich, und sie konnte nicht einmal mehr schreien, als sie auf die wild schaukelnde Spielzeuglandschaft tief unter sich herabsah. Ameisengroße Gestalten liefen mit kleinen, hektischen Schritten über das Betonfundament des Rades, deuteten wild gestikulierend nach oben und riefen sich unverständliche Worte zu.

Einer der Männer baute sich unmittelbar unter der Gondel auf, formte mit den Händen einen Trichter und legte den Kopf in den Nacken. »Geben Sie auf, Missis Taylor!«

Vivian hatte Mühe, die Worte und das Heulen des Windes zu verstehen. Die Gondel hing etwa zwanzig Meter über dem Boden, und sie konnte fast das gesamte Gelände überblicken. Zwischen den verfallenen Gebäuden bewegten sich weitere Gestalten. Zehn, vielleicht fünfzehn von Ulthars Sklaven, die auf das Riesenrad zuströmten. Rasch wandte sie den Blick wieder ab und schloß die Augen, doch das Bild ließ sich nicht verdrängen, und bei jedem Windstoß, der das Rad traf, spürte sie die Konstruktion beben. Obwohl ein kleiner Teil ihres Verstandes ihr einflüsterte, daß es unmöglich war, glaubte sie mit unumstößlicher Sicherheit zu fühlen, wie das gesamte Gebilde sich mehr und mehr neigte und umzustürzen begann.

»Geben Sie auf, Missis Taylor!« wiederholte der Mann. »Wir holen Sie jetzt herunter! Es hat keinen Sinn, sich zu wehren! Sie sind umstellt!«

Seine Worte rissen sie aus ihrer Erstarrung und machten ihr wieder die wirkliche Gefahr bewußt, in der sie schwebte. Aus irgendeinem Grund schienen die Spiegelwesen immer noch daran interessiert zu sein, sie unverletzt in ihre Gewalt zu bringen, aber das Schicksal, das ihr in Ulthars Kabinett drohte, erschien ihr schlimmer noch als der Tod. Sie würde auf ewig in einem der Spiegel gefangen sein, während Melissa ihre Stelle einnehmen würde. Vivian biß sich so fest auf die Lippen, daß sie zu bluten begannen. Der Schmerz half ihr, die Fesseln der Panik wenigstens für einen Moment abzuschütteln. Sie trat vom Rand der Gondel zurück und sah sich verzweifelt nach irgend etwas um, das sie als Waffe verwenden konnte. Aber auf dem Boden lag nichts außer jahrzehntealtem Schmutz und den Resten der zusammengeknüllten Zeltplane.

Wieder fuhr ein Ruck durch das Riesenrad. Der Motor heulte tief unter ihr gequält auf, und die Konstruktion setzte sich widerwillig in Bewegung.