Vivian strauchelte, hielt sich an der Mittelachse der Gondel fest und kämpfte mühsam um ihre Selbstbeherrschung. Sie machte sich keine Illusionen über das, was ihr bevorstand. Ulthars Männer mußten praktisch jede Sekunde gewußt haben, wo sie war. Aber sie hatten seelenruhig abgewartet, bis sie sich selbst in eine Lage manövriert hatte, aus der es absolut kein Entkommen mehr gab. Sie brauchten nur in aller Ruhe abzuwarten, bis das Riesenrad seine Drehung vollendet hatte, um sie in Empfang zu nehmen.
Vivian kauerte sich auf den Boden. Immer noch konnte sie das Beben und Schwanken des riesigen Gebildes überdeutlich spüren, aber wenigstens hatte sie den schrecklichen Anblick der Tiefe nun nicht mehr vor Augen. Mit aller Macht versuchte sie, an etwas anderes zu denken, sich abzulenken, doch es gelang ihr nicht. Höhenangst war eine Phobie, eine abgrundtiefe, ureigene Furcht, die nichts mit normaler Angst zu tun hatte, sondern tief in ihrem Inneren verborgen lag und sich jeder bewußten Kontrolle durch ihren Verstand entzog. Mit jeder Sekunde durchlitt sie Höllenqualen, sah sich mit ihrem schlimmsten nur vorstellbaren Alptraum konfrontiert, der hier Realität wurde, vermutlich, ohne daß Ulthars Spiegelgeschöpfe überhaupt wußten, was mit ihr geschah.
Das Riesenrad hatte jetzt eine halbe Umdrehung vollendet. Vivians Gondel schwebte im Zenit des stählernen Kreises und schickte sich langsam, aber mit tödlicher Unerbittlichkeit an, auf der anderen Seite abzusteigen.
Wieder ging ein harter Ruck durch das Rad und brachte es zum Stehen. Diesmal bebte die ganze Konstruktion so stark, daß Vivian für einen Moment völlig sicher war, das Gebilde würde auseinanderbrechen. Sie war schweißüberströmt und zitterte am ganzen Körper, aber noch war das Maß ihres Schreckens nicht ausgeschöpft.
Mit einem hellen, durchdringenden Geräusch sprang einer der drei Haltebolzen, die die Gondel an der Achse hielten, heraus und sauste wie ein improvisiertes Schrappnellgeschoß an ihr vorbei. Die Gondel knirschte, schien einen Moment wie ein lebendiges Wesen zu stöhnen und legte sich merklich auf die Seite. Vor Vivians entsetzt aufgerissenen Augen löste sich der zweite Bolzen aus seiner Halterung, polterte zu Boden und verschwand durch einen Riß im Boden in der Tiefe.
Die Todesangst half ihr, die Lähmung abzuschütteln. Sie schrie auf, griff nach oben und hielt sich an einer Querverstrebung fest. Das Riesenrad glitt erneut ein Stück tiefer und blieb wieder stehen.
Die Erschütterung ließ auch den letzten Bolzen brechen.
Für einen kurzen, schrecklichen Moment hatte Vivian das Gefühl, haltlos in die Tiefe zu stürzen. Der Boden sackte unter ihren Füßen weg, als sich die Gondel losriß und abstürzte.
Unter ihr klang ein vielstimmiger Schrei auf. Ein Dutzend winziger Gestalten stürmte in wilder Panik auseinander, als die Gondel wie eine überdimensionale Bombe auf sie hinunterstürzte und auf dem Boden zerbarst.
Vivian klammerte sich verzweifelt an dem Träger fest und zwang sich, nicht nach unten zu schauen. Ihre Finger fanden auf dem glatten Metall kaum Halt. Sie spürte, wie sie Zentimeter für Zentimeter abzurutschen begann, schlug wild mit den Beinen um sich und versuchte verzweifelt, sich festzuklammern. Ihre Fingernägel brachen ab. Ihre Hände waren blutig und zerschunden, und der Druck auf die Handgelenke wurde unerträglich.
Ein wütendes, schrilles Kreischen klang neben ihr auf. Sie drehte mühsam den Kopf und erblickte das fliegende Ungeheuer, das ihre Verfolger auf ihre Spur gehetzt hatte. Erst jetzt war zu erkennen, wie riesig es war. Es hing zwei, drei Meter neben ihr, schien sie aus boshaften Augen zu mustern und balancierte mit vorsichtigen Flügelschlägen auf der Stelle. Sein Raubtierschnabel schien sich zu einem höhnischen Grinsen verzogen zu haben.
Vivian rutschte ein weiteres Stück ab, schrie auf und prallte mit dem Schädel gegen einen Eisenträger. Der Schmerz raubte ihr fast das Bewußtsein. Sie spürte, wie sich ihr Griff lockerte, und warf instinktiv einen Blick nach unten. Alles begann sich um sie herum zu drehen, und sie schloß blitzschnell die Augen, aber vorher sah sie noch die beiden Spiegelgestalten, die im Gewirr der Stahlträger und Querverstrebungen zu ihr hochzuklettern begannen.
Die Sekunden schienen sich endlos zu dehnen. Ohne die Augen zu öffnen, klammerte sich Vivian mit der Kraft der Verzweiflung weiterhin fest, ignorierte den Schmerz in ihren Fingern und Armen, bis sie schließlich glaubte, gar nicht mehr loslassen zu können.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie endlich Hände spürte, die nach ihr griffen und ihre Finger von dem Stahlträger lösten. Einen Moment lang glaubte sie, wie ein Stein zu fallen, aber die Hände hielten sie eisern fest. Erst jetzt wagte sie die Augen wieder zu öffnen. Sie befand sich im Griff der beiden Spiegelgeschöpfe, die sie mit je einer Hand unter den Achseln gepackt hielten, und mit der anderen vorsichtig von Verstrebung zu Verstrebung tiefer kletterten. Das letzte Stück sprangen sie.
Der weiche Sand dämpfte den Aufprall ein wenig, aber er war immer noch so hart, Vivian fast das Bewußtsein zu rauben. Sie konnte vor Schmerz und Erschöpfung kaum noch denken. Mühsam hob sie den Kopf, blinzelte die Tränen weg und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zu den mehr als ein Dutzend Spiegelgestalten auf, die im Kreis um sie herumstanden. Einer der Männer trat vor, riß sie brutal vom Boden hoch und hielt sie am Arm fest, als sie wieder zusammenzubrechen drohte. Instinktiv versuchte sie mit dem Rest ihrer noch verbliebenen Kraft sich zu wehren, doch ein harter Schlag traf ihr Gesicht, ließ ihre Lippe aufplatzen und sie erneut zu Boden stürzen. Die Welt um sie herum verschwand hinter einem blutigen Nebel. Sie wartete darauf, daß man sie wieder packte und hochriß, um sie fortzuschaffen, doch nichts dergleichen geschah. Statt dessen drangen mit einemmal Kampfgeräusche durch den Schleier aus Schmerz und Erschöpfung, der sich um ihr Bewußtsein gelegt hatte, an ihr Ohr: wütendes Knurren, das dumpfe Geräusch von Schlägen, Schmerzensgeheul. Sie hob unter Aufbietung aller Kräfte den Kopf.
Vor ihren Augen spielte sich eine schier unglaubliche Szene ab. Mehr als zwanzig weitere Gestalten waren plötzlich auf dem Platz vor dem Riesenrad erschienen und hatten sich auf Ulthars Spiegelgeschöpfe gestürzt. Erst nachdem Vivian ein paarmal geblinzelt hatte, um den Tränenschleier vor ihren Augen zu vertreiben, erkannte Vivian, daß es sich nicht um Menschen handelte, sondern um stämmige, reptilienhafte Kreaturen mit krokodilartigen Schädeln, scharfen Klauen und einer Haut aus grünlichen Hornschuppen. Auf Conellys Party hatte sie noch geglaubt, es wären Menschen in Kostümen, aber jetzt, als sie sah, wie sich die Kreaturen auf die Spiegelgeschöpfe stürzten, erkannte sie, daß sie sich getäuscht hatte.
Binnen zwei, drei Sekunden waren die beiden unterschiedlichen Gruppen in einen wilden, erbarmungslosen Kampf verstrickt. Vivian sah, wie sich zwei der grüngeschuppten Gestalten auf einen Mann stürzten, mit all ihrer unmenschlichen Kraft auf ihn einschlugen und ihre Raubtierzähne in seinen Körper zu graben versuchten. Das Spiegelgeschöpf lachte schrill, schleuderte eine der Kreaturen mit einer spielerischen Bewegung zur Seite und schlug der anderen die geballte Faust gegen den Schädel. Der Getroffene brüllte auf, preßte die Hände an den Kopf und taumelte zurück. Schwarzes Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor.
Conelly mußte erkannt haben, daß Ulthar ihn zu hintergehen versuchte, und allem Anschein nach hatte er die echsenhaften Bestien geschickt, damit sie Vivian töteten, bevor Ulthar eine weitere Gelegenheit erhielt, Melissa zu befreien. Jetzt, mit einemmal wurde ihr auch bewußt, wieso ihr die Kreaturen schon auf der Party so bekannt vorgekommen waren: Es handelte sich um die gleichen Bestien wie in ihrem Alptraum, aber wenn es in Wahrheit kein Traum war, sondern die Erinnerungen Melissas, dann bedeutete das, daß schon damals Conelly für deren Tod verantwortlich gewesen war, und daß er alles in seiner Macht Stehende tun würde, um sie zu töten und die Wahrheit vor Ulthar zu verbergen.