Vivian begriff, daß sie fliehen mußte, ohne eine Sekunde zu zögern, und sie erkannte die Chance, die sich ihr unverhofft noch einmal bot. Mühsam kroch sie ein paar Meter weit durch den Sand, richtete sich schwankend auf und taumelte blindlings weiter. Ohne eigene Schuld war sie in die Auseinandersetzung zwischen zwei ungeheuren Mächten geraten, in der sie wie ein Staubkorn zerrieben werden würde, wenn es ihr nicht gelang, zu entkommen.
Eine der Kreaturen tauchte auf einmal direkt vor ihr auf. Vivian sah die Hand der Bestie herabsausen und wandte im letzten Augenblick den Kopf zur Seite. Die dolchartigen Krallen zischten Millimeter vor ihrem Gesicht durch die Luft, schlitzten ihre Bluse auf und hinterließen blutige Striemen auf ihrer Haut. Die Wucht des Schlages schleuderte Vivian zu Boden, doch noch bevor sich die Bestie auf sie stürzen konnte, wurde das Ungeheuer von einem der Spiegelwesen gepackt und zurückgerissen.
Vivian richtete sich mühsam auf. Sie taumelte weiter, strauchelte und rappelte sich wieder hoch. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, daß Ulthars Geschöpfe trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit den Kampf immer mehr für sich entschieden, obwohl die Echsenkreaturen mit unglaublicher Wut und dem Mut der Verzweiflung kämpften, immer wieder ihre schrecklichen Fänge und die messerscharfen Krallen einzusetzen versuchten. Aber Vivian hatte selbst erlebt, daß die Spiegelwesen so gut wie unbesiegbar waren, sich jede ihnen geschlagene Wunde sofort wieder schloß. Lange würde der Kampf nicht mehr dauern.
Sie lief weiter, so schnell sie konnte. Ihre Beine drohten immer wieder unter ihr wegzuknicken, aber Angst und Verzweiflung gaben ihr neue Kraft und ließen sie weitertaumeln.
Etwa fünfzig Meter vor ihr lag ein dunkler, langgestreckter Umriß auf dem Strand.
Ein Boot!
Der Anblick mobilisierte noch einmal ihre Kräfte. Sie rannte los, warf sich verzweifelt gegen den Rumpf und schob das Boot ins Wasser. Hinter ihr zerschnitt ein wütender Aufschrei die Luft, aber das registrierte sie kaum noch. Sie watete zwei, drei Meter weit ins Meer hinaus, bis das Boot genug Wasser unter dem Kiel hatte, zog sich mit letzter Kraft über den Bootsrand und schlug schmerzhaft auf den harten Planken auf. Ihre Finger tasteten müde nach dem Anlasser des Außenborders. Kaum war der Motor angesprungen, drehte sie das Boot, richtete den Bug auf den verschwommen sichtbaren Strand des Festlandes und ließ sich einfach vornüber fallen, hinein in die weichen, warmen Arme der Bewußtlosigkeit.
11
»Verräter!« tobte Conelly. Blanker Haß funkelte in seinen Augen, während er wuchtig die Tür aufstieß und in den gleichen Raum stürmte, in dem er schon am Mittag mit Ulthar gesprochen hatte. Der einarmige Magier erwartete ihn an einem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand gelehnt. Er wirkte ruhig, fast gelassen, und um seine Mundwinkel spielte die Andeutung eines Lächelns. Es war gerade diese Ruhe, die Conelly mitten im Schritt verharren ließ. Er hatte erwartet, daß Ulthar sich in seinem Kabinett verbarrikadiert und jeden einzelnen seiner Spiegelsklaven zu seinem Schutz aufgeboten hatte, nachdem er es durch den Bruch des Abkommens offenbar auf eine gewaltsame Auseinandersetzung anlegte. Darauf wäre Conelly vorbereitet gewesen, aber er hatte nicht erwartet, ungehindert bis an den Eingang des Kabinetts zu gelangen, um dort von einem der Spiegelwesen in aller Freundlichkeit zum Eintreten aufgefordert zu werden. Vor allem aber überraschte ihn, daß Ulthar ihm allein und schutzlos gegenübertreten würde. In seine Wut mischte sich aufkeimende Nervosität.
»Eine harte Anschuldigung«, sagte der Magier, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich nehme an, du sprichst von dieser ...« Ulthar tat, als müßte er einen Moment nachdenken. »... dieser Vivian Taylor?«
»Natürlich.« Conelly schnaubte. »Wovon wohl sonst? Es war abgemacht, daß sie stirbt. Sie saß bereits in der sicheren Falle, aber deine Leute haben ihr zur Flucht verholfen.«
Ulthar machte mit seinem einen Arm eine gleichgültige Geste. »Ein Versehen«, erklärte er. »Meine Leute wußten nichts von unserem Abkommen. Sie haben diese Taylor für irgendeinen ganz normalen Gast gehalten.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Wie es aussieht, haben wir sie unterschätzt. Noch bevor ich mich mit ihr beschäftigen konnte, ist es ihr gelungen, zu fliehen.« Ulthars Stimme wurde vorwurfsvoll. »Du hättest mich warnen können, daß sie magische Kräfte besitzt, dann wäre das nicht passiert.«
»Zum Teufel mit dir!« stieß Conelly hervor. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß ich dir das glaube? Ich habe meinen Teil des Abkommens erfüllt, und ich habe nur einen sehr geringen Preis dafür verlangt. Willst du dich selbst davor drücken?«
Ein flüchtiges, kaltes Lächeln huschte über Ulthars Gesicht. »Du solltest dich nicht so aufregen, Howard, das schadet deinem Blutdruck. Ich verstehe, daß du wütend bist, trotzdem solltest du dir besser überlegen, was du sagst. Vivian Taylor ist wirklich geflohen, aber es wird nicht lange dauern, bis meine Leute sie aufgespürt haben.« Er machte eine kurze Pause. »Es würde übrigens bestimmt schneller gehen, wenn du deinen Beobachter da draußen anweisen würdest, ihnen zu helfen. Aus der Luft wird sie schneller zu entdecken sein.«
Er strich mit der Hand über die Oberfläche des Spiegels hinter sich. Das Glas wurde für einen Augenblick milchig und zeigte dann gestochen scharf wie ein Fernseher die am Himmel kreisende Flugbestie.
Conelly zögerte. Schließlich nickte er, konzentrierte sich und sandte seinem Geschöpf einen kurzen gedanklichen Befehl. Die Flugbestie, die bislang hoch über der Halbinsel ihre Kreise gedreht hatte, änderte ihren Kurs, stieß herab und verharrte schließlich krächzend über einem der Gebäude.
»Na also.« Ulthar nickte zufrieden. »Meine Geschöpfe werden sie einfangen, und ich werde sie dir wie auf dem berühmten Silberteller servieren.«
Während der Spiegel ihnen Vivians Flucht bis zur Gondel des Riesenrades zeigte, wandte Conelly den Kopf und sah Ulthar nachdenklich an. War es möglich, daß der Magier wirklich noch nicht gemerkt hatte, wer Vivian Taylor in Wirklichkeit war? Sie war geflohen, insofern hatte er die Wahrheit gesagt. Möglicherweise hatte er Ulthar überschätzt, und der alte Magier hatte bei der fanatischen Suche nach Melissa soviel von seinem Verstand eingebüßt, daß er blind für die Realität geworden war, vielleicht war alles aber auch nur ein Ablenkungsmanöver. Er wurde aus Ulthar einfach nicht schlau; es gelang ihm nicht, den Magier zu durchschauen. Das, was er von Ulthar sah, war nur eine Maske. Der Alte besaß Macht, ungeheure Macht. Er hatte sie schon damals besessen, auch noch nach Melissas Tod, und nur deshalb hatte Conelly darauf verzichtet, ihn zu vernichten. Damals war Ulthar angeschlagen gewesen, aber ein Kampf hätte dennoch furchtbare Opfer gekostet. Der in seinem Schmerz halbverrückte Magier schien niemals wieder eine Gefahr darzustellen, solange man ihn nicht reizte, und Conelly hatte nicht geglaubt, daß Melissa wirklich eines Tages wieder auftauchen würde. Beides war ein Irrtum gewesen, wie er nun wußte. Er hatte sich selbst ein Vierteljahrhundert lang etwas vorgemacht und sich dabei auch noch eingeredet, daß es Ulthar wäre, der dies täte und nur einem Phantom nachjagen würde.
Mehr als nur einmal hatte er sich seit dem gestrigen Mittag insgeheim gefragt, ob es nicht ein weiterer Fehler gewesen war, den Pakt mit Ulthar zu schließen und zu versuchen, zunächst mehr über dessen gegenwärtige Macht herauszufinden, statt sofort mit aller Härte zuzuschlagen. Aber auch er war von Melissas plötzlichem Auftauchen überrascht worden. Er mußte Zeit gewinnen. Natürlich hatte er Ulthar während der vergangenen Jahre beobachten lassen, aber je mehr Zeit verstrich, und je länger der Magier nur noch wie ein Eremit vor sich hinvegetierte, ohne noch das geringste Anzeichen von Machtstreben zu zeigen, desto flüchtiger und oberflächlicher war die Überwachung geworden. Das Geheimnis der Spiegel war für Conelly unlösbar geblieben; statt dessen hatte er seine eigenen Fähigkeiten und damit seine Macht ausgebaut. Bereits die wenigen Kostproben jedoch, die Ulthar ihm in den letzten Stunden von der Macht der Spiegel geboten hatte, zeigten überdeutlich, daß auch er sich weiterentwickelt hatte, und das in weitaus stärkerem Maße, als Conelly befürchtet hatte. Entgegen seiner Erwartung, Ulthar mit dem Köder, ihm die einflußreichsten Männer der Stadt in die Hände zu spielen, stundenlang so sehr zu beschäftigen, daß der Magier zu nichts anderem mehr käme, hatte dieser sowohl den Köder wie auch die Beute scheinbar mühelos an sich gerissen.