»Was habe ich gesagt?« riß ihn Ulthars Stimme aus seinen Gedanken. »Meine Leute haben sie.«
Conelly schaute auf und sah in dem Spiegel, wie zwei von Ulthars Geschöpfen Vivian Taylor aus dem Gestänge des Riesenrades herunterholten. »Befiehl ihnen, sie zu töten!« verlangte er. »Sofort!«
Ulthar schüttelte den Kopf. »Ich habe versprochen, sie dir zu übergeben, Howard, und das werde ich tun. Was du dann mit ihr machst, ist deine Sache.« Er musterte Conelly abschätzend. »Warum eigentlich bist du so daran interessiert, daß sie stirbt?« fragte er wie beiläufig. »Sie besitzt beachtliche Kräfte und könnte uns überaus nützlich sein.«
Mehr und mehr hatte Conelly das Gefühl, zu einem Statisten in einem bösen Spiel des Magiers degradiert zu werden. Andererseits bestand immer noch die Möglichkeit, daß Ulthar tatsächlich nicht wußte, daß es sich bei Vivian Taylor um Melissa handelte. »Dafür ist sie zu gefährlich«, erwiderte er. »Vergiß nicht, daß sie auch dir entkommen ist. Sie könnte zu einer bedrohlichen Gegnerin werden, und gerade jetzt können wir keine unnötigen Schwierigkeiten gebrauchen. Deshalb ist es besser, wenn sie stirbt.«
Ulthar wirkte für einige Sekunden unschlüssig. Wenn er sich nur verstellte, war er ein brillanter Schauspieler. Schließlich nickte er. »Vielleicht ist es wirklich besser so.«
»Dann töte sie.«
»O nein.« Ulthar lächelte sardonisch. »Ich bin kein Mörder, habe noch nie jemanden umgebracht. Ich verwandle die Menschen nur. Wenn du willst, daß Vivian Taylor stirbt, mußt du sie schon selbst töten. Ich lasse sie hierherbringen, und damit betrachte ich dann auch meinen Teil des Paktes als erfüllt.«
Conelly überlegte blitzschnell. Falls Ulthar noch nichts über Melissa wußte, durfte sie auf keinen Fall hierhergebracht werden. Spätestens dann würde der Magier ihre wahre Identität erkennen. Conelly entschied sich, die Maske fallenzulassen und aufs Ganze zu gehen. Es wurde Zeit zum Handeln. Die Zeit arbeitete gegen ihn, nicht für ihn, wie er sich bislang eingebildet hatte. Er durfte nicht mehr länger warten.
»Wie du meinst«, sagte er lächelnd und sandte erneut einen gedanklichen Befehl aus. »Eigentlich wird es gar nicht nötig sein, Vivian Taylor erst umständlich hierher zu holen. Wichtig ist nur, daß sie stirbt, und wenn du nicht in der Lage bist, dafür zu sorgen, dann tue ich es. Und zwar jetzt!«
Ulthars Augen weiteten sich entsetzt, als er begriff, was Conelly mit seinen Worten gemeint hatte. »Nicht!« schrie er. »Ruf sie zurück!«
Aber es war zu spät. Aus den Schatten eines der Gebäude rund um das Riesenrad quollen Dutzende von schuppigen, muskulösen Gestalten und stürzten sich auf Vivian Taylor.
»Du Narr«, sagte Ulthar kalt. »Glaubst du ernsthaft, auf diese Art irgend etwas zu erreichen?«
Conelly stieß einen wütenden Fluch aus, als er in dem Spiegel beobachtete, wie sich die Spiegelwesen seinen Kreaturen entgegenstellten. Für zwei, drei Sekunden hing sein Blick wie hypnotisiert an dem chaotischen Bild. Seine Lippen bebten, und über sein Gesicht zuckte eine Vielzahl von Empfindungen: Überraschung, Unglauben, Zorn, schließlich Haß, als er sah, wie seine Schergen von Ulthars Männern niedergerungen wurden.
»Verrat!« brüllte er. Er fuhr mit einer schlangengleichen Bewegung herum und stürzte auf Ulthar zu. Sein Arm zuckte vor. Der Schlag schleuderte den Magier quer durch den Raum. »Verrat!« brüllte Conelly noch einmal. Seine Stimme überschlug sich vor hysterischem Zorn. »Jetzt bist du zu weit gegangen. Diesmal wirst du dich nicht mehr herausreden können.«
»So? Wer sagt, daß ich das überhaupt vorhabe?« Ulthar rappelte sich wieder auf. Auch sein Blick flammte nun vor Haß. »Dieser ganze Pakt war ein einziger Verrat, und du hast ihn überhaupt nur geschlossen, um mich zu hintergehen. Glaubst du, ich wüßte nicht längst, wer Vivian Taylor in Wahrheit ist? Ich wußte es schon, als du gestern herkamst, auch wenn du es wohl nicht für nötig gehalten hast, dieses kleine Detail zu erwähnen.«
Conelly machte einen Schritt auf Ulthar zu, doch im gleichen Moment wurde die Tür geöffnet. Fünf der Spiegelwesen drängten sich in den Raum und bauten sich in einer Reihe zwischen ihm und dem Magier auf. Conelly ballte die Fäuste. Vermutlich hätte er Ulthars Geschöpfe vernichten können, aber vor der Tür wartete noch einmal mindestens die gleiche Zahl, und er konnte nicht gegen sie alle kämpfen.
»Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst«, sagte Ulthar ruhig. »Ich könnte dich töten, aber ich will keinen Krieg mit dir. Ich rate dir jedoch, mir niemals wieder in die Quere zu kommen. Misch dich nicht mehr in meine Angelegenheiten, dann können wir friedlich miteinander auskommen.«
Einige Sekunden lang starrten sie sich schweigend an. Beide wußten, daß dieser Waffenstillstand nicht lange halten würde, dafür kannten sie sich zu gut, aber sie wußten auch beide, daß dies nicht der richtige Augenblick für einen Entscheidungskampf war. Conelly begriff, daß er den einarmigen Magier unterschätzt hatte. Er brauchte Zeit, um gründlichere Vorbereitungen für eine Auseinandersetzung zu treffen. Die Leichtigkeit, mit der die Spiegelwesen seine Geschöpfe vernichtet hatten, war ein Schock für ihn gewesen - und eine heilsame Lehre.
Ulthar seinerseits ahnte, daß es ein Fehler war, Conelly so einfach ziehen zu lassen. Die Gelegenheit war günstig, den Monstermacher zu töten, aber ein Kampf würde auch unter seinen Spiegelgeschöpfen verheerende Verluste kosten. Verluste, die er sich gegenwärtig nicht erlauben konnte. Es würde andere günstige Gelegenheiten geben, mit Conelly abzurechnen. Im Moment war nur Melissa wichtig. Er mußte Vivian Taylor in sein Kabinett zurückholen, statt seine Kräfte in einem Krieg gegen Conelly zu verzetteln.
»Geh!« sagte er noch einmal.
»Also gut«, zischte Conelly. »Für den Moment hast du gewonnen.« Er trat an den Spiegel und starrte wütend auf die Szene darin. Vivian Taylor hatte ein Boot bestiegen und damit bereits fast das Ufer des Festlandes erreicht. »Aber deine Heimtücke wird dir nichts nützen. Schau dir an, wie Melissa stirbt.«
Erneut sandte er einen gedanklichen Befehl aus. Dann fuhr er herum und stürmte an den Spiegelwesen vorbei aus dem Raum, während das fliegende Ungeheuer, das bislang nahezu reglos über der Halbinsel geschwebt hatte, den Kopf in den Nacken warf, einen schrillen Schrei ausstieß und pfeilschnell hinter dem Boot herjagte.
12
Sheldon Porter schob den Feldstecher sorgsam in das Lederfutteral an seinem Gürtel zurück, runzelte die Stirn und ging schließlich mit fast widerwilligen Bewegungen den Hang hinunter.
»Na, irgend etwas entdeckt?« fragte Mickey.
Sheldon zögerte ein paar Sekunden, ehe er den Kopf schüttelte. »Nein«, murmelte er, griff in die Satteltasche seiner Honda und zündete sich umständlich eine Zigarette an. »Das heißt ... doch. Ich meine, da wäre jemand gewesen. Aber es war nicht Frank.«
Mickey zuckte mit den Achseln, reckte sich und gähnte ungeniert. »Wenn du mich fragst«, sagte er, »vergeuden wir hier unsere Zeit. Wir sollten machen, daß wir wegkommen. Wahrscheinlich hat sich Frank mit der Braut irgendwohin abgesetzt, um ein paar Tage ungestört zu sein. Er würde sich totlachen, wenn er uns hier sehen würde.«