Mit aller Kraft riß Sheldon an der Kette. Das Ungeheuer bäumte sich in der Luft auf, warf den Kopf in den Nacken und trudelte hilflos zu Boden. Seine schrecklichen Klauen schlugen in sinnloser Wut in den Sand. Sheldon ließ der Bestie keine Chance. Mit einem wütenden Ruck befreite er seine Kette, sprang außer Reichweite der umherpeitschenden Flügel und hieb nach ihrem Kopf. Zwei-, dreimal schlug er mit aller Kraft zu, dann lag die alptraumhafte Kreatur reglos vor ihm. Schwarzes, schleimig glänzendes Blut tropfte aus dem zertrümmerten Schädel und versickerte im Sand, doch gleich darauf ging eine erschreckende Veränderung mit der toten Kreatur vor. Ihre Konturen begannen zu flimmern, wurden unscharf, als befände sie sich unter einer von sanften Wellen bewegten Wasseroberfläche.
Dann begann sie sich aufzulösen.
Vor Sheldons fassungslos aufgerissenen Augen verlor sie an Festigkeit, wurde durchscheinend wie eine schwache Holographie. Nach wenigen Sekunden war der gewaltige Leichnam der Bestie vollends verschwunden, einschließlich der Blutspuren. Nur eine Mulde im Sand zeichnete noch den Umriß ihres Körpers nach und bewies Sheldon, daß er nicht nur geträumt hatte.
Ungläubig und von beinahe noch größerem Schrecken als zuvor beim Anblick der Bestie erfüllt, wich er ein paar Schritte zurück. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und bei jeder Bewegung zuckte ein lähmender Schmerz durch sein Handgelenk. Keuchend ließ er die Kette fallen und massierte seinen schmerzenden Unterarm, während er versuchte, etwas Ruhe in seine aufgewühlten Gedanken zu bringen.
Ein leises, kaum hörbares Stöhnen ließ ihn herumfahren. Eine Hand tastete mit unsicheren Bewegungen über den Rand des Bootes, das noch immer mit sinnlos laufendem Motor versuchte, den Strand zu erklimmen.
Sheldon lief los.
In dem Boot lag der zusammengekrümmte Körper einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau. Sheldon erkannte, daß sie normalerweise sehr schön sein mußte, aber im Augenblick bot sie einen eher bemitleidenswerten Anblick. Ihre Kleider waren verdreckt und zerrissen.
Zahllose Kratz- und Schnittwunden bedeckten ihre Haut, und ihr schwarzes, schulterlanges Haar war verklebt von Blut und feuchtem Sand. Sie atmete keuchend und versuchte kraftlos, sich über den Bootsrand zu ziehen. Sheldon ergriff ihre Handgelenke und hob sie behutsam so weit aus dem Boot, daß er unter ihre Achseln greifen konnte. Sie war überraschend leicht. Sie stöhnte unter seiner Berührung und machte einen schwachen Versuch, seine Hände abzustreifen. Sheldon ignorierte es.
Er hatte längst aufgehört, eine Erklärung für die phantastischen Vorgänge finden zu wollen, die er beobachtet hatte. Sein Blick irrte unsicher über das Meer nach Coney Island hinaus. Ohne sein Fernglas konnte er die Gestalten am gegenüberliegenden Ufer nur als winzige schwarze Punkte ausmachen, aber er war sicher, daß sie den Kampf mit dem Vogel beobachtet hatten. Wahrscheinlich würden sich jetzt schon einige von ihnen auf dem Weg hierher befinden.
Er schleifte den Körper der halb bewußtlosen Frau auf den Strand, legte sie behutsam auf den Rücken und beugte sich über sie. Ihr Gesicht zuckte vor Schmerz, als er ihre Wange berührte. Wahrscheinlich hatte sie Fieber. »Können Sie mich verstehen?« fragte er leise.
Sie stöhnte, warf den Kopf hin und her und öffnete die Augen. Ihr Blick flackerte unstet. Sie versuchte zu nicken, aber die Bewegung war mehr zu ahnen als wirklich zu erkennen.
»Wir müssen hier weg«, sagte Sheldon eindringlich. »Verstehen Sie mich? Wir müssen weg. Die Leute, die hinter Ihnen her sind, werden jeden Augenblick hier auftauchen.« Er zögerte. »Glauben Sie, daß Sie auf einem Motorrad mitfahren können?« fragte er.
Die junge Frau nickte erneut, aber Sheldon bezweifelte, daß sie seine Worte überhaupt verstanden hatte.
Wahrscheinlich war dieses Nicken nur ein reiner Reflex auf den Klang seiner Stimme.
Er stand auf, ging zu seiner Maschine hinüber und richtete sie keuchend auf. Dann kehrte er zu der Frau zurück, hob sie vorsichtig hoch und setzte sie behutsam auf die Honda. Sie fiel kraftlos vornüber und wäre erneut zu Boden gestürzt, wenn Sheldon sie nicht an den Schultern festgehalten hätte. Er schwang sich vor ihr in den Sattel, bettete ungelenk ihren Kopf auf seiner Schulter und löste mit hastigen Bewegungen seinen Gürtel. Es war ein schweres Stück Arbeit, bei dem die Frau mehr als einmal aus dem Sattel zu rutschen und zu Boden zu fallen drohte, aber schließlich hatte er sie provisorisch mit dem Gürtel an sich gebunden. Er startete den Motor, fuhr vorsichtig durch den lockeren Sand und gab Gas, als das erste Gras unter den Reifen der Maschine auftauchte.
13
Vivians Erwachen geschah langsam und qualvoll, ganz anders als sonst, wenn sie aus einem tiefen Schlaf aufwachte. Ihr Körper schien in Flammen gebadet zu sein, und irgend etwas Dunkles, Schleimiges hielt ihren Geist wie mit klebrigen Spinnenfäden umfangen und versuchte immer wieder, sie in den schwarzen Sumpf der Bewußtlosigkeit zurückzuziehen. Sie stöhnte, versuchte sich zu bewegen und die Augen zu öffnen, aber es ging nicht.
Durch das dumpfe Rauschen ihres eigenen Blutes drangen Geräusche an ihr Ohr. Schritte, das Rascheln von Kleidung und Worte, deren Sinn sie nicht begriff. Jemand berührte sie sanft, aber kraftvoll am Arm, richtete sie auf und setzte irgend etwas Kühles, Hartes an ihre Lippen. Automatisch öffnete sie den Mund und schluckte. Die Flüssigkeit schmeckte bitter und scharf; sie brannte in ihrer Kehle. Vivian hustete, machte eine schwache Abwehrbewegung, und diesmal gelang es ihr, die Augen zu öffnen.
Ein grinsendes, stoppelbärtiges Gesicht hing über ihr. »Ich wußte doch, daß ein kräftiger Schluck Sie wieder auf die Beine bringt.« Er nickte auffordernd und wartete, bis sie wieder trank. Der Whisky brannte wie Feuer in ihrer Kehle, aber gleichzeitig machte sich ein warmes, wohltuendes Gefühl in ihrem Magen breit. Das Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn verging allmählich.
»Wer ... wer sind Sie?« fragte sie stockend. »Und wo bin ich hier?«
»Mein Name ist Sheldon Torter«, antwortete der Mann. »Ich habe Sie am Strand aufgelesen - erinnern Sie sich nicht?«
Vivian überlegte, aber hinter ihrer Stirn war nichts als Chaos. Schließlich schüttelte sie widerwillig den Kopf. »Um ehrlich zu sein, nicht«, erklärte sie mit schwachem Lächeln. »Was ist passiert?«
»Ich hatte gehofft, daß Sie mir das erklären könnten«, sagte Sheldon seufzend. Er stellte das Whiskyglas auf den Tisch, setzte sich neben Vivian auf den Bettrand und legte in einer kameradschaftlichen Geste den Arm um ihre Schulter. »Sie haben ziemlich viel geredet, während Sie hier lagen«, sagte er. »Wer ist Ulthar?«
Vivian schrak zusammen. »Ich habe von ihm gesprochen?«
»Und noch von einigem mehr«, bestätigte Sheldon. »Sie haben eine ganze Menge gesagt, allerdings muß ich zugeben, daß ich kaum ein Wort verstanden habe.« Er lächelte schwach. »Und ich hätte nichts von allem geglaubt, wenn ich Sie nicht beobachtet hätte.« Seine Stimme zitterte unmerklich, als er fortfuhr: »Dieses Wesen, das Sie gejagt hat ... was war das für ein Ungeheuer?«
Vivian ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie spürte, daß Sheldon es ehrlich meinte, immerhin hatte er ihr das Leben gerettet, aber sie zögerte, ihn noch tiefer in die Geschichte hineinzuziehen. Sie streifte seinen Arm ab, stand behutsam auf und ging mit kleinen, vorsichtigen Schritten durch den Raum. Es klappte besser, als sie erwartet hatte.