Sie blickte an sich herunter. Der schwarze Hosenanzug, den sie getragen hatte, war verschwunden und durch schmuddelige Jeans und ein um mehrere Nummern zu großes Herrenhemd ersetzt worden. Ihre Handgelenke waren mit mehr gutem Willen als medizinischem Wissen verbunden worden; auf die Schnittwunden an ihren Handflächen hatte jemand ein ganzes Sammelsurium von Pflastern geklebt. »Haben Sie mich ... verarztet?«
Sheldon nickte. »Ja. Ich fürchte, ich mache mich nicht sehr gut als Krankenpfleger, aber ich wollte keinen Arzt rufen. Er hätte zu viele Fragen gestellt.«
Vivian lächelte. Sheldon wurde ihr mit jeder Sekunde sympathischer, dabei sah der junge Mann nicht gerade vertrauenerweckend aus. Er war groß, ein Hüne, hinter dem sich selbst Mark spielend hätte verstecken können. Seine Hände erinnerten Vivian an Schaufeln, und die muskulösen Oberarme schienen beständig darum bemüht zu sein, das dünne, karierte Baumwollhemd zu sprengen. Seine Beine steckten in hautengen, zerschlissenen Lederhosen und schwarzen Motorradstiefeln. Sein Haar war schulterlang, verfilzt und wahrscheinlich seit dem letzten Unabhängigkeitskrieg nicht mehr gewaschen worden. Aber Vivian spürte, daß hinter diesem ungepflegten Äußeren ein guter Kerl steckte.
»Ich möchte Sie nicht in die Geschichte hineinziehen, Sheldon«, sagte sie schließlich. »Es könnte gefährlich werden.«
Sheldon machte eine gleichgültige Handbewegung und zündete sich eine Zigarette an. »Ich stecke schon tief genug drin«, sagte er zwischen zwei Zügen. Sein Gesicht verschwand hinter einer blauen Qualmwolke. »Also - was war das für ein fliegendes Monstrum?«
»Eine Art ... Beobachter«, sagte Vivian zögernd. »Wahrscheinlich hat er auch gesehen, daß Sie mich hergebracht haben. Wir müssen ...«
Sheldon schüttelte den Kopf. »Glaube ich kaum«, sagte er ruhig. »Weil das Biest nämlich nicht mehr lebt. Ich mußte es erschlagen, als es mich angriff. Und ich fürchte, irgend jemand wird darüber nicht besonders glücklich sein. Das heißt, daß ich schon mittendrin stecke, und ich möchte wenigstens wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Er grinste flüchtig. »Also sagen Sie mir schon, was das für Leute sind, die hinter Ihnen her sind, und was es mit dieser ... dieser Kreatur auf sich hat. Ich glaube, Sie sind es mir schuldig, mich einzuweihen.«
Vivian sah Sheldon zweifelnd an, dann senkte sie den Kopf. Es widerstrebte ihr auch jetzt noch, ihn tiefer als unbedingt nötig in die Auseinandersetzung mit Ulthar zu verstricken, aber wenn es sich so verhielt, wie er sagte, hatte sie wohl keine andere Wahl. Sie seufzte, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Dann begann sie mit ruhiger, leiser Stimme zu erzählen. Sie berichtete alles - angefangen damit, wer sie war und welchen Beruf sie aufgrund der seltsamen Fähigkeiten, die sie manchmal in sich spürte, bis vor kurzem ausgeübt hatte, bis hin zu Conellys Party, auf der sie und die Spitze der New Yorker Gesellschaft Ulthar in die Falle gegangen waren. Lediglich davon, daß angeblich der Geist einer toten Hexe in ihr schlummern sollte, sagte sie nichts.
Als sie von dem Spiegelkabinett und den monströsen Geschöpfen erzählte, die Ulthars Sklaven angegriffen hatten, runzelte Sheldon zweifelnd die Stirn, schwieg aber und hörte weiterhin geduldig zu.
Erst als sie nach mehr als zwanzig Minuten geendet hatte, ergriff er wieder das Wort. »Die Geschichte hört sich ziemlich phantastisch an«, sagte er. »Aber ich muß Ihnen wohl glauben. Schließlich habe ich einen kleinen Teil davon selbst miterlebt. Auch«, fügte er kopfschüttelnd hinzu, »wenn ich es immer noch nicht begreife.«
»Mir geht es ja selbst kaum anders«, murmelte Vivian. »Vor allem soweit es diese ... Ungeheuer betrifft. Sie haben gegen Ulthars Spiegelgeschöpfe gekämpft, aber das bedeutet noch nicht, daß sie auf ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich meine, ich habe keine Ahnung, welche Ziele sie verfolgen und wer hinter ihnen steckt. Ich vermute, daß sie zu Conelly gehören, aber inzwischen weiß ich selbst nicht mehr, was ich glauben soll. Hören Sie, Sheldon, Sie sollten sich nicht weiter in diese Sache einmischen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar - aber die Mächte, mit denen wir es hier zu tun haben, sind gefährlicher, als wir uns vielleicht überhaupt nur vorstellen können. Das beste wäre, wenn ich jetzt gehe, und Sie die ganze Geschichte so schnell wie möglich vergessen.«
Sheldon lachte hart. »Sie sind gut, Vivian. Wenn das, was Sie mir erzählt haben, stimmt, dann stecke ich bereits viel zu tief in der Geschichte, um noch so tun zu können, als wüßte ich nichts davon. Und nicht nur ich. Sie sagten, die Leute auf dieser Party wären alle in Ulthars Falle gegangen?«
»Zumindest die meisten, fürchte ich, und vor allem die wichtigsten.«
»Dann beherrschte Ulthar schon jetzt praktisch die Stadt«, sagte Sheldon hart. »Ich weiß zwar nicht, was er vorhat, aber er wird es kaum dabei bewenden lassen, ein paar Kopien von wichtigen Politikern und Wirtschaftsbossen anzufertigen. Er wird weitermachen, und Sie glauben doch nicht, ich würde mich hier hinsetzen, die Hände in den Schoß legen und in aller Ruhe abwarten, während ein Wahnsinniger mit solchen schrecklichen Fähigkeiten die Herrschaft über die Stadt übernimmt?« fragte Sheldon. Er beugte sich vor, senkte die Stimme und sah sie ernst an. »Nach dem, was Sie mir erzählt haben, Vivian, schweben wir alle in größter Gefahr. Und ich gehöre nicht zu den Menschen, die vor einer Gefahr davonlaufen.«
Vivian schüttelte den Kopf. »Hier geht es nicht darum, den Helden zu spielen, Sheldon. Ulthar und seine Spiegelwesen sind bereits schlimm genug, aber dazu kommt noch, daß er durch sie nun auch die Schaltstellen von Polizei und Geheimdienst beherrscht. Wir werden es mit der gesamten Polizei zu tun bekommen. Und dann ist da noch Conelly. Ich habe keine Ahnung, wie er sich verhalten wird.«
Sheldon lachte abfällig. »Ich bin es gewohnt, Ärger mit den Cops zu haben«, sagte er und stand auf. »Vermutlich mehr als Sie. Wenn Sie sich wieder einigermaßen wohl fühlen, gehen wir.«
»Wohin?« erkundigte sich Vivian.
»Die Jungs zusammenrufen. Meine Bande, Gang, Gruppe ... was Ihnen lieber ist«, erklärte er.
Vivian schüttelte erneut den Kopf. »Sheldon, Sie mißverstehen die Lage völlig. Begreifen Sie doch endlich, daß das hier kein Spiel ist. Ulthar will mich töten, und er wird jeden aus dem Weg räumen, der ihn daran zu hindern versucht.«
»Ich weiß«, sagte Sheldon ungerührt. »Aber sehen Sie, Vivian - Sie haben mir gesagt, was Sie wissen, und nun ist es wohl an mir, Ihnen etwas zu erzählen. Ich war nicht nur rein zufällig draußen am Strand, als Sie mit Ihrem Boot auftauchten. Ich war schon die halbe Nacht dort draußen und habe die Insel beobachtet, und wenn ich Sie nicht getroffen hätte, wäre ich heute wahrscheinlich rübergefahren.«
»Weshalb?« fragte Vivian.
Sheldon lächelte traurig. »Wegen Frank«, erklärte er. »Mein Bruder. Er ist vorgestern nacht mit seiner Freundin nach Coney Island hinausgerudert, aber bislang nicht wiedergekommen. Ich glaube, ich weiß jetzt, was ihm zugestoßen ist.« Sein Gesicht zuckte. Er drehte sich brüsk um, nahm zwei Motorradhelme von einer Ablage und warf Vivian einen zu. »Setzen Sie ihn auf«, sagte er, während sie über die knarrende Holztreppe in den Hinterhof hinuntergingen, in dem seine Honda stand. »In der Packtasche ist eine Jacke. Niemand wird Sie erkennen.«
Vivian sträubte sich nicht länger. Sie setzte den Helm auf, zog eine zerschlissene Lederjacke aus der Tasche und zog sie an. Sheldon schwang sich in den Sattel, betätigte den Anlasser und wartete, bis Vivian hinter ihm Platz genommen hatte. Dann fuhr er los.
Vivian versuchte, sich zu orientieren, aber der Stadtteil, durch den sie fuhren, war ihr völlig fremd. Die Häuser hier erinnerten sie nicht an das, was sie von New York im Gedächtnis hatte. Es waren zweistöckige, alte Wohnblocks mit hohen Fenstern und breiten Eingängen. Früher einmal mußte dieses Viertel eines der besseren Wohngegenden der Stadt gewesen sein, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Halbverrostete Autowracks, überquellende Mülleimer und Scharen von schmutzigen, zerlumpten Kindern bestimmten das Straßenbild. Die wenigen Erwachsenen, die die Straßen bevölkerten, waren meist ärmlich gekleidet, und ihre Bewegungen wirkten irgendwie ängstlich und verstört, als schämten sie sich ihrer Armut und gingen nur höchst widerwillig aus ihren Behausungen.