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Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung, während einige Stockwerke über ihm Mark Taylor die Tür zu seiner Suite öffnete, seiner Begleiterin den Vortritt ließ und ihr folgte. Erst als er die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte, streifte sie den Umhang ab.

Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, gehörte Vivian Taylor.

»Ich begreife nicht, worauf wir noch warten«, knurrte Pecos, einer von Sheldons Freunden, als Vivian ihren Bericht beendet hatte. Anfangs hatte sie erwogen, einfach den Mund zu halten und sich zu weigern, etwas über Ulthar, das Spiegelkabinett und Frank Porters vermutliches Schicksal zu erzählen, diesen Entschluß aber schnell wieder verworfen. Sheldon kannte die ganze Geschichte, und wenn sie sich weigerte, hätte er sie erzählt und dabei wahrscheinlich alles etwas verharmlost oder geringfügig in eine Richtung verändert, die ihm besser gefiel. Es war ein Fehler gewesen, sich ihm anzuvertrauen, das wußte Vivian jetzt, aber nachdem sie nun einmal so weit gegangen war, stellte es das kleinere von zwei Übeln dar, wenn sie selbst die Geschichte noch einmal wiederholte und dabei besonderen Wert auf Ulthars Gefährlichkeit legte. Wie wenig es allerdings nutzte, bewies ihr Pecos' Reaktion. Der junge Mann rutschte von seinem Barhocker herunter und funkelte Sheldon auffordernd an. »Fahren wir hinaus und nehmen diesen Laden auseinander«, verlangte er.

Sheldon verzog abfällig das Gesicht. »Du bist ein Idiot, Pecos«, sagte er ruhig. »Vivian hat doch gerade versucht, dir zu erklären, daß wir uns einen Plan ausdenken müssen, wie wir Frank dort herausholen. Denken, Pecos, verstehst du?« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Was glaubst du, wie schnell uns diese Spiegeltypen entdecken, wenn wir einfach mit unseren Motorrädern nach Coney Island hinausfahren?«

Pecos schürzte trotzig die Lippen. »Weißt du was Besseres?«

»Im Moment nicht«, gab Sheldon zu. »Aber uns wird schon was einfallen. Deshalb bin ich schließlich hergekommen, statt allein sofort was zu unternehmen.«

Einer der anderen schob sich in den Vordergrund. »Sag mal, Sheldon«, begann er zögernd, »ich will deine Worte ja nicht anzweifeln, aber ...« Er sah Vivian mißtrauisch an und wiegte den Kopf. »Bist du sicher, daß die Kleine dich nicht verläßt? Ich meine, Spiegelbilder, die herumlaufen und sich bewegen - das ist doch ziemlich phantastisch, oder? Vielleicht hat sie einfach einen kleinen Dachschaden.«

Für zehn, fünfzehn Sekunden starrte Sheldon den Mann nur schweigend an. »Ich wünschte, es wäre so«, murmelte er dann. »Was glaubst du, wie oft ich mir diese Frage in den letzten Stunden schon gestellt habe? Aber ich habe dieses ... dieses Vogelmonster selbst gesehen, und ich habe dagegen gekämpft. Und ich habe auch die Spiegelwesen gesehen, wenn auch zum Glück nur von weitem. Sie sahen zwar wie normale Menschen aus, aber nach der Begegnung mit diesem fliegenden Ungeheuer glaube ich ihr jedes Wort.« Er deutete auf Vivian. »Und was dich betrifft, Jack ... Wenn du Schiß hast, dann sag es. Ich kann es dir nicht mal übelnehmen, aber wir kommen auch gut ohne dich zurecht.«

Jack erbleichte sichtlich. »So war das nicht gemeint, Sheldon. Es ist nur ...«

»Sie glauben mir nicht«, sagte Vivian ruhig.

Jack nickte. »Wenn ich ehrlich sein soll - nein.«

»Das ist kein Wunder. Die Geschichte hört sich ziemlich phantastisch an, das weiß ich. Wahrscheinlich würde ich an Ihrer Stelle selbst nicht anders reagieren. Wenn mir vor ein paar Tagen jemand etwas von gestaltgewordenen Spiegelbildern, fliegenden Ungeheuern und anderen Schauergestalten erzählt hätte, hätte ich ihn bestimmt auch ausgelacht. Aber was ich erzählt habe, ist wahr.« Vivian seufzte. »Wenn Sheldon nicht eingegriffen hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.«

»Sheldon Porter als Lebensretter«, kicherte jemand. »Wie edel.«

Sheldon überging die Bemerkung. »Es geht gar nicht darum, ob wir ihr glauben oder nicht«, sagte er nach einer Weile. »Wir wissen, daß Frank dort hinausgefahren und seitdem nicht wieder aufgetaucht ist. Wir sollten wenigstens nachsehen, ob es dieses Kabinett wirklich gibt. Wenn es stimmt ...« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht knöpfen wir uns diesen Ulthar mal vor.«

Vivian sah ihn zornig an. »Verdammt, Sheldon, ich hätte gedacht, daß Sie vernünftig sein würden, aber das War wohl ein Irrtum. Sie unterschätzen die Gefahr noch immer. Gegen Ulthars Magie sind Sie und Ihre Freunde hier ein Nichts, begreifen Sie das doch endlich. Sie können nicht einfach hingehen und sich ihn vorknöpfen, wie Sie es ausdrücken.«

»Und ob ich das kann«, sagte Sheldon grimmig. »Seien Sie mir nicht böse, Vivian - aber bei uns herrschen andere Gesetze als in der Gesellschaftsschicht, aus der Sie kommen. Wir haben unseren eigenen Ehrenkodex. Niemand vergreift sich an einem von uns, ohne es mit allen zu tun zu bekommen. Und wir lassen uns durch ein bißchen Hokuspokus nicht einschüchtern.«

Vivian rang hilflos mit den Händen und starrte Sheldon an. Sie hätte ihn niemals einweihen dürfen. Die Welt, aus der er und seine Freunde stammten, unterschied sich grundlegend von ihrer, und das nicht erst seit ihrer Hochzeit mit Mark. Sheldons Welt mochte auf ihre Weise härter und brutaler sein, aber gleichzeitig einfacher. Gewalt wurde mit Gewalt beantwortet, und je größer eine Bedrohung war, desto größer das Maß an Gewalt, das man ihr entgegensetzen mußte.

»Selbst wenn Sie Recht hätten, Sheldon«, sagte sie leise, »selbst wenn es so einfach wäre und wir einfach hinausgehen und gegen Ulthar kämpfen könnten ... er hat einfach zu viele Männer. Ihr seid acht oder neun, aber Ulthar hat Dutzende von Gefolgsleuten, vielleicht sogar Hunderte.« Von den Echsenwesen sprach sie lieber nicht.

So ganz hatte sie das Auftauchen der unheimlichen Kreaturen noch immer nicht begriffen. Es war alles viel zu schnell gegangen, es war viel zuviel in viel zu kurzer Zeit passiert, als daß sie die Ruhe gehabt hätte, über die Hintergründe aller Geschehnisse nachzudenken. Eigentlich war sie seit Stunden fast nur noch damit beschäftigt gewesen, ihr Leben zu retten. Fest stand immerhin, daß es neben den Spiegelgeschöpfen noch eine zweite, kaum weniger gefährliche Gruppe gab, die sich zwar mit Ulthar bekriegte, deshalb aber noch lange nicht auf ihrer Seite stand. Nur zu deutlich erinnerte sie sich noch, wie eine der Echsenkreaturen sie zu töten versucht hatte. Es war möglich, daß tatsächlich Bürgermeister Conelly dahintersteckte, wie Ulthar behauptet hatte, aber es konnte sich ebensogut um eine Lüge des Magiers handeln, mit der er ein weit größeres Geheimnis zu verschleiern versuchte. Vielleicht verfolgten die Echsenmonster ein ganz anderes Ziel.

Dennoch erschien Ulthar ihr im Moment als der gefährlichere Gegner. Die monsterhaften Kreaturen hatten voller Haß gekämpft, gelenkt von einem geradezu animalischen Trieb, während Ulthar ... Sie dachte an die spiegelnde, silbernen Gänge des Kabinetts zurück, und wieder stieg dieses seltsame, beklemmende Gefühl in ihr auf. Das Ganze erweckte den Eindruck einer geradezu klinischen Bösartigkeit. Ulthars Reich war sauber, blank, blitzend ... gefühllos. Seine Kreaturen glichen Robotern, die stumm ihre Befehle ausführten, ohne Gewissen, ohne Gefühle ... Vielleicht, überlegte sie, war dies die Endstufe des Bösen. Ein Wesen, das für seine Opfer nicht einmal mehr Haß empfand, sondern nur noch Gleichgültigkeit. Selbst die Zeitungsschmierer, die ihr für eine Weile das Leben zur Hölle gemacht hatten und die sie deshalb mehr als einmal als dämonische Blutsauger oder Teufelsdiener bezeichnet hatte, besaßen im Vergleich zu Ulthar wenigstens noch Ansätze von Menschlichkeit.