»Und wie«, drang Jacks Stimme in ihr Bewußtsein, »sollen wir dann vorgehen?«
Sie schrak auf, sah einen Moment lang verwirrt von Sheldon zu Jack und dann wieder zu Sheldon zurück. »Ich weiß es auch nicht«, gestand sie. »Wir müssen irgendwie versuchen, Ulthar aus seinem Bau zu locken.«
»Oder hineinzukommen«, sagte Jack. Er lächelte, als er Vivians überraschten Blick bemerkte. »Im Ernst - es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, unbemerkt in dieses komische Kabinett hineinzukommen.« Er grinste, entblößte dabei eine Zahnlücke und nippte an seinem Bier. »Wenn dieser Ulthar so scharf darauf ist, Sie in die Hände zu bekommen ...«
»Er hat seine Leute, die das für ihn erledigen«, unterbrach ihn Sheldon. Auf seinem Gesicht erschien ein nachdenklicher Ausdruck. »Aber du bringst mich da auf eine Idee ...« Er drehte sich halb herum und sah Vivian nachdenklich an. »Ihr Mann«, begann er, »er wurde auch geschnappt, nicht wahr?«
Vivian spürte einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust, als Marks Name fiel. Sie hatte bisher fast krampfhaft vermieden, an ihn zu denken. Sie nickte widerwillig.
»Wenn ich er wäre«, fuhr Sheldon nachdenklich fort, »würde ich in mein Zimmer zurückgehen und in aller Ruhe abwarten, bis Sie auftaucht.«
»Glauben Sie wirklich, ich wäre so dumm, dorthin zu gehen?« fragte Vivian.
Sheldon nickte ernsthaft. »Aber sicher. Sie verkennen Ihre Lage, Missis Taylor. Selbst wenn Sie aus eigener Kraft hätten entkommen können - wo wären Sie hingegangen? Ohne Geld, ohne Papiere, ohne Freunde? Sie müssen wenigstens Ihren Paß haben. Ohne den kommen sie nämlich nicht einmal aus der Stadt.«
Vivian mußte Sheldon widerwillig recht geben. Das Problem mochte banal erscheinen, aber es existierte. Die Stadt würde sie sicherlich auch ohne Papiere verlassen können, aber ganz sicher nicht das Land. Und sie würde ohne Geld auch nicht allzu weit kommen; für jemanden der sich wie sie daran gewöhnt hatte, sich niemals Sorgen um Geld oder Unterkunft machen zu müssen, ein fast bizarrer Gedanke. Aber leider hatte Sheldon nur zu recht. Sie hatte nicht einmal eine einzige ihrer Kreditkarten bei sich.
»Und was«, fragte sie zögernd, »schlagen Sie vor?«
Sheldon grinste gehässig. »Nun, wenn ich Ihr Mann wäre, dann würde ich im Hotel eine hübsche kleine Falle für Sie vorbereiten.«
»Das ist anzunehmen.«
»Dann sollten wir ihn nicht unnötig warten lassen«, sagte Sheldon und grinste noch breiter.
Der Portier sah überrascht auf, als die Gruppe das Foyer betrat. Für einen Moment spielte ein mißbilligender Zug um seine Mundwinkel, ehe sein Gesicht wieder zu einer Maske berufsmäßiger Freundlichkeit erstarrte. Als eines der teuersten und vornehmsten Hotels New Yorks genoß das SHERIDAN nicht umsonst einen gewissen Ruf, so daß eine Rockerbande nicht unbedingt zum gewohnten Bild des Hotels gehörte, und die Aufmachung der vier jungen Männer, die durch die Glastüren traten, ließen den Portier nicht an ihrer Zugehörigkeit zu einer Straßengang zweifeln: enge, glänzende Lederhosen über schweren Stiefeln, nietenbeschlagene Jeans, Lederjacken und abgewetzte Stulpenhandschuhe. Die geschwärzten Visiere der Motorradhelme gaben den Gestalten etwas Bedrohliches, Abenteuerliches.
»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte der Portier mit der üblichen professionellen Höflichkeit, als die Gruppe vor ihm anhielt. Einige vorübergehende Gäste warfen den vier mißbilligende oder ängstliche Blicke zu und beeilten sich, weiterzukommen.
»Wir wollen zu Mister Taylor«, sagte einer der vier. Er griff mit einer geschmeidigen Bewegung nach oben, nahm den Helm ab und legte ihn auf die Theke. »Ist er da?«
Der Portier drehte sich zögernd herum, sah zum Schlüsselbord herauf und schüttelte den Kopf. William Crown hatte ihm beim Schichtwechsel vor rund drei Stunden Taylors Wunsch, seine Anwesenheit verleugnen zulassen, mitgeteilt.
»Der Zimmerschlüssel ist hier«, sagte er, ohne zu erwähnen, daß es sich nur um einen von zweien handelte. »Mister Taylor scheint nicht im Haus zu sein.«
»Das macht auch nichts«, sagte einer der drei anderen Ankömmlinge, setzte ebenfalls den Helm ab und schüttelte das Haar auseinander. Erst jetzt war zu erkennen, daß es sich um eine Frau handelte.
Der Portier schluckte. »Missis Taylor!«
Vivian lächelte breit. »In Lebensgröße. Haben Sie mich nicht erkannt?«
»Nein, ich ...«
Vivian unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Hat Mister Taylor gesagt, wann er wiederkommt?«
»Nein. Ich bin erst seit drei Stunden hier. Er muß sehr früh weggegangen sein.« Er drehte sich um und machte Anstalten, nach dem Schlüssel zu greifen, aber Vivian hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Das wird nicht nötig sein. Ich brauche nur eine Kleinigkeit aus dem Zimmer. Vielleicht kann einer der Pagen hinaufgehen?«
»Selbstverständlich. Worum handelt es sich?«
»Ich brauche den blauen Koffer aus dem Schlafzimmer«, sagte sie. »Er müßte direkt neben dem Bett stehen. Könnten Sie ihn für mich holen lassen?«
Der Portier nickte, drückte auf einen verborgenen Klingelknopf und drehte sich erwartungsvoll um. In der holzgetäfelten Wand hinter seinem Rücken öffnete sich eine schmale Tür, und ein kleinwüchsiger uniformierter Page erschien. Vivian konnte nicht verstehen, was der Portier zu ihm sagte, aber er nickte beflissen und entfernte sich in Richtung Aufzug.
»Wir warten hier«, sagt Vivian. Sie griff nach ihrem Helm, klemmte ihn unter den Arm und wich mit zufällig erscheinenden Bewegungen ein paar Schritte in Richtung Ausgang zurück. Ihre drei Begleiter folgten ihr.
»Glauben Sie, es hat geklappt?« fragte Sheldon, als sie außer Hörweite des Portiers waren.
Vivian biß sich auf die Unterlippe. »Ich hoffe es«, sagte sie. »Wenn nicht ...« Sie brach ab und starrte an Sheldon vorbei nach draußen. »Er muß einfach da sein«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Sie können sich ausrechnen, daß ich früher oder später hier auftauche. Ich hoffe nur, Mark fällt auf den Trick herein.« Sie sah zweifelnd zum Aufzug und verfluchte ihre Nervosität. Allmählich kamen ihr Zweifel, ob Sheldons Plan wirklich so gut war, wie sie im ersten Augenblick angenommen hatten. Die ganze Geschichte war mehr als gewagt. Aber vielleicht hatten sie gerade deshalb Aussicht auf Erfolg. Ulthar würde mit allem rechnen - aber kaum damit, daß Vivian zum Angriff überging.
Auf der Straße fuhr eine Kolonne schwerer Motorräder vorbei. Das dumpfe Grollen der Motoren wurde von den dicken Glasscheiben der Türen fast vollkommen verschluckt, aber Vivian und Sheldon hörten es trotzdem. Sheldon trat vor die Glasscheibe und bewegte wie zufällig die Hand. Keinem Außenstehenden wäre die Geste aufgefallen. Auch im Verhalten der Motorradfahrer schien sich nichts zu ändern. Aber Vivian wußte, daß Pecos das Zeichen gesehen hatte. Die Gruppe mochte nach außen wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen wilder Gestalten erscheinen, aber Vivian hatte schnell erkannt, daß es sich in Wirklichkeit um eine straff geführte Gruppe handelte, die mehr Disziplin aufbringen konnte, als man ihr zutraute. Zwei der Maschinen würden jetzt ausscheren und sich dem Hotel von der entgegengesetzten Seite nähern.
»Ich hoffe, es war nicht zu früh«, murmelte sie.
Sheldon lächelte ermutigend. »Kaum. Außerdem - Pecos kann schon auf sich aufpassen. Er ist ein Meister im Improvisieren.«
»Der Aufzug kommt«, flüsterte Jack.
Vivian drehte sich mit erzwungenen ruhigen Bewegungen herum. Das weiße Licht über der Aufzugstür war aufgeleuchtet. Ein heller Glockenton erklang, dann gingen die Türen mit quälender Langsamkeit auseinander. Aus der Kabine trat Mark Taylor. Für einen kurzen Augenblick fühlte Vivian einen heißen, brennenden Schmerz, als sie die schlanke Gestalt betrachtete, die so ganz wie Mark aussah und doch grundverschieden von ihm war.