»Halt die Schnauze«, grollte Jack. »Sonst stopf ich sie dir.«
Mark lächelte sanft, fuhr dann mit einer blitzschnellen Bewegung herum und rammte ihm den Ellbogen in den Magen. Jack ächzte, fiel vorn über und rang würgend nach Luft.
»Hört auf!« Vivians scharfer Befehl ließ Mark erstarren. Er lehnte sich zurück, grinste flüchtig und starrte aus dem Fenster. Jack richtete sich stöhnend auf und massierte sich den Magen. Er wirkte blaß. »Wo bringen wir ihn eigentlich hin?« fragte Vivian. Ihre Stimme schwankte immer noch. Aber irgendwie war sie froh, diesen kurzen Ausbruch miterlebt zu haben. Der heimtückische Angriff hatte ihr endgültig bewiesen, daß dieses Wesen nichts, aber auch gar nichts mit Mark gemeinsam hatte.
»Es gibt eine alte Fabrik im Westen«, sagte Sheldon, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Das Ding ist massiver als das Staatsgefängnis. Wir werden ihn dort eine Weile festhalten können. Pecos kommt auch dorthin.«
»Wenn alles gutgeht«, sagte Vivian. Sheldon grinste. »Wird schon. Bisher hat alles geklappt, warum sollte es nicht weiter so gut gehen?«
»Alles geklappt?« ächzte Jack. »Deine Art von Humor ist goldig, Sheldon. Vielleicht hätte ich mich besser nach vorne setzen sollen.«
Sheldon grinste schief, sah in den Rückspiegel und bog auf die Stadtautobahn ein. Der Wagen beschleunigte.
»Heb dir deine Wut für den Augenblick auf, in dem du diesem Ulthar gegenüberstehst«, riet er. »Das heißt, wenn noch etwas von ihm übrig ist, nachdem ich mit ihm abgerechnet habe.«
Vivian schüttelte den Kopf, aber sie sagte nichts, sondern starrte stumm aus dem Fenster.
15
Zahlreiche Menschen hatten die unterirdischen Gewölbe tief unter der Villa Howard Conellys bereits betreten, aber nur die wenigsten hatte sie wieder verlassen. Zumindest nicht als Menschen ...
Der Raum war so hoch, daß sich das rötliche Flackern der Fackeln in der Höhe verlor. Die Wände bestanden aus roh bearbeitetem Fels, und die Decke wurde von Säulen aus zyklopischen, aufeinandergefügten Felsblöcken getragen, die mit barbarischen Fresken und Verzierungen geschmückt waren. An der Rückwand des rechteckigen Raumes erhob sich ein mächtiger, aus natürlich gewachsenem Fels heraus gearbeiteter Thron, der allein durch seine Dimensionen jeden Betrachter beeindruckt hätte.
Irgendwo tropfte Wasser; ein regelmäßiges, monotones Geräusch, das das leise Prasseln der Flammen untermalte und zu den niedrigen Temperaturen paßte, die in Conellys geheimem Reich herrschten.
Conelly saß reglos wie eine steinerne Statue auf dem Thron und starrte mit blicklosen Augen vor sich hin. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.
Er hatte einen Fehler gemacht, indem er erst versucht hatte, Ulthar durch den Pakt hinzuhalten und zu überlisten, statt sofort mit aller Macht zuzuschlagen und ihn zu vernichten. Besser noch wäre es gewesen, den Magier schon damals zu vernichten, unmittelbar nach Melissas Tod. Noch heute begriff Conelly nicht, warum er sich diese wohl einmalige Gelegenheit hatte entgehen lassen, wie er sich so in seinem Widersacher hatte täuschen können. Damals hätte er wahrscheinlich leichtes Spiel gehabt: Ulthar war nicht nur schwach gewesen, sondern vor allem verzweifelt. Mittlerweile hatte sich das geändert, und vor allem hatte Ulthar die seither verstrichene Zeit genutzt, seine Spiegel weiter zu ergründen und seine Kräfte in aller Heimlichkeit in einem Maße zu steigern, die Conelly niemals für möglich gehalten hätte. Am schlimmsten aber war der Gedanke, daß er selbst durch den Pakt dazu beigetragen hatte, Ulthars Macht noch zu vergrößern.
In hilfloser Wut ballte er die Fäuste, als er daran dachte, mit welcher Leichtigkeit die Spiegelwesen seine Geschöpfe getötet hatten. Ulthar hatte ihn nicht nur gedemütigt, sondern auch verhöhnt.
Conelly stieß einen Fluch aus, sprang hoch und begann wütend im Raum auf und ab zu gehen. Die kostbaren Marmorfliesen des Fußbodens erzitterten unter seinem Schritt. Was war los mit ihm, daß ihm in letzter Zeit immer mehr Fehler unterliefen? Wie es aussah, wurde er allmählich alt. Die Niederlage in Ulthars Kabinett war unnötig gewesen. Statt mit einigen wenigen seiner Geschöpfe nach Coney Island zu gehen, hätte er mit aller Kraft angreifen sollen.
Aber vielleicht konnte er auch aus der Niederlage noch einen Vorteil ziehen. Immerhin wußte er jetzt, daß er Ulthar unterschätzt hatte. Noch einmal würde ihm dieser Fehler nicht unterlaufen. Hätte er unter diesen falschen Voraussetzungen einen Großangriff gestartet, wären die Folgen erst recht verheerend gewesen. In einer offenen Auseinandersetzung würde er dem Magier unterlegen sein, daran gab es nun kaum noch einen Zweifel. Ulthar beherrschte nicht nur seine Spiegelwesen; durch Cramer und Bender konnte er notfalls sämtliche Polizeieinheiten zu seinem Schutz aufbieten.
Conelly blieb stehen, starrte zu Boden und bewegte lautlos die Lippen. Er mußte anders vorgehen, um Erfolg zu haben und Ulthar auszuschalten, unauffälliger. Ihm blieb nicht viel Zeit. Sobald der Magier Vivian Taylor erst einmal gefunden und Melissa erst zu neuem Leben erweckt hatte, würde er von ihr erfahren, wer damals für ihren Tod verantwortlich gewesen war. Dann würde sich Ulthar rächen, und mit Melissa an seiner Seite dürfte es fast unmöglich werden, ihn noch zu besiegen.
Abrupt drehte sich Conelly um, ging zu seinem Thron zurück und klatschte in die Hände. »Quaraan!«
Die Szenerie änderte sich schlagartig. Die großen, schmiedeeisernen Tore, die fast die ganze Südfront der Halle einnahmen, schwangen mit rostigem Quietschen auf. Ein kleines, geschupptes Wesen, halb Mensch, halb Eidechse, erschien mit wieselnden Bewegungen vor dem Thron und senkte unterwürfig den Kopf. Die mächtigen, messerscharf auslaufenden Reißzähne des kaum metergroßen Wesens schienen kräftig genug, einen jungen Baum mit einem einzigen Biß zu teilen.
Genau so hatte Conelly ihn erschaffen wollen. Quaraan stellte in gewisser Hinsicht etwas wie sein Meisterwerk dar, eine deutliche Weiterentwicklung seiner bisherigen Geschöpfe. Bevor Conelly ihn getroffen, in seine magischen Tröge gesteckt und nach seinen Vorstellungen verwandelt hatte, war er ein unauffälliger, kleiner Angestellter gewesen, mit einer nur schwachen paranormalen Begabung, die ihm nicht einmal bewußt gewesen war. Nach dem Verlassen der Tröge jedoch war er ein perfekter Killer geworden, ein Spürhund mit ungeheurer Kraft, der eine einmal aufgenommene Spur niemals verlor, bis er sein Opfer gefunden und getötet hatte.
Und er verfügte über eine ganz besondere Fähigkeit, die erst nach der Umwandlung offen zum Durchbruch gekommen war ...
»Du hast mich gerufen, Herr?«
»Wir müssen handeln«, sagte Conelly. Seine Stimme zeigte keine Spur der Gefühlswallung, die in seinem Inneren tobte. »Ich werde noch einmal zu Ulthar gehen«, erklärte er. »Die Fehler, die begangen wurden, lassen sich nicht wieder rückgängig machen, aber noch ist nicht alles verloren. Ulthar ist schon jetzt mächtiger als ich, aber er weiß nichts von dir. Um die Macht seiner Spiegel einzusetzen ist er auf optische Wahrnehmungen angewiesen, deshalb bist du genau der richtige für diesen Auftrag. Bevor er Melissa erwecken und noch mächtiger werden kann, werden wir ihn vernichten. Du wirst ihn dir schnappen, mein kleiner schuppiger Freund.« Er sprang von seinem Thron herab, tätschelte dem Echsenwesen den Kopf und blieb hochaufgerichtet stehen.
Die hornigen Lippen des Geschöpfes verzogen sich zur boshaften Karikatur eines Grinsens. »Wir werden ihn vernichten«, krächzte Quaraan.
»Mitsamt dieser Hexe.« Conelly fuhr herum und ging mit entschlossenen Schritten auf den Ausgang zu. Das Echsenwesen folgte ihm mit kleinen, watschelnden Bewegungen. Sein Schwanz schleifte über den Boden.