»Er ist sicher«, sagte Sheldon, der Vivians Gedanken zu erraten schien. »Ihm kann dort drinnen nichts passieren. Und er kann auch nicht heraus.«
Vivian nickte unmerklich und drehte sich um. Sie ertrug es einfach nicht mehr, die Tür anzustarren.
»Möchte wissen, wo Pecos so lange bleibt«, maulte einer der Männer - John, wenn sie seinen Namen richtig behalten hatte.
»Vielleicht hat er im Hotel ein Zimmermädchen aufgerissen«, feixte Jack, dann wurde er schlagartig ernst. »Oder es ist irgend etwas schiefgegangen.«
»Red kein Blech«, sagte Sheldon streng. »Pecos kann auf sich aufpassen.« Er bückte sich, hob die Anzugjacke vom Boden auf und zwängte sich ächzend hinein. Vivian musterte ihn mit verhaltenem Lächeln. Irgendwie wirkte er in Marks Anzug, der ihm um mehrere Nummern zu klein war, lächerlich.
»Als Dressman würdest du verhungern«, spottete Jack.
Sheldon bedachte ihn mit einem bösen Blick und überprüfte nacheinander die Taschen des Anzugs. »Das gebe ich wohl besser Ihnen«, sagte er und reichte Vivian Marks Brieftasche und Portemonnaie. »Bei dem vielen Geld käme ich nur in Versuchung, und mit den Ausweisen könnte ich höchstens einen Blinden täuschen. He, was ist das denn?« Er zog eine Kette mit einem Anhänger aus der Außentasche des Jacketts. »Da Ihr Mann solchen Schmuck wohl kaum trägt, war es vermutlich als Überraschung für Sie geplant.«
»Mein Amulett!« Vivian griff hastig danach. Kaum hielt sie es in der Hand, spürte sie wieder das vertraute, beruhigende Pulsieren des Medaillons. Sie hängte es sich um den Hals. Also hatte es sich wirklich nicht um einen normalen Straßenraub gehandelt, sondern Ulthar hatte es ihr entwenden lassen und es Marks Spiegelbild gegeben.
»Was ist das?« erkundigte sich Sheldon neugierig.
»Ein Andenken«, erklärte Vivian ausweichend. Wenn sie erzählte, daß es ihr half, ihre paranormalen Fähigkeiten gezielter einzusetzen, würde das den ohnehin schon viel zu großen Übermut ihrer Begleiter nur noch mehr anstacheln. »So etwas wie ein Glücksbringer.«
Sheldon zuckte mit den Schultern, band sich ungeschickt die Krawatte um und verzog das Gesicht. »Muß dieser Mummenschanz wirklich sein?«
»Wir müssen irgendwie an Ulthar herankommen«, sagte Vivian. »Sie sehen Mark zwar nicht sonderlich ähnlich, aber ich hoffe, Ulthar läßt sich täuschen. Wahrscheinlich wird er nicht zu genau hinsehen, wenn er glaubt, Mark brächte mich als Gefangene zurück. Schließlich rechnete er ja damit, nach der Falle, die er mir im Hotel gestellt hat.«
»Ich hoffe es.« Sheldons Lächeln verschwand übergangslos. »Ich brenne darauf, mich mit diesem Herren zu unterhalten. Wenn er mir keine sehr gute Erklärung dafür geben kann, was mit Frank passiert ist ...«
»Wenn Sie dazu kommen, ihn zu fragen«, sagte Vivian düster. »Ich habe bislang noch keine Ahnung, was wir gegen Ulthar unternehmen sollen, selbst wenn wir an ihn herankommen.«
»Im Zweifelsfalle«, sagte Jack lakonisch, »hauen wir ihm einfach so lange in die Fresse, bis er aufgibt.«
Vivian starrte den Rocker an, schwieg aber auch jetzt. Diese zu groß geratenen Kinder würden nie begreifen, daß man gegen jemanden wie Ulthar nicht wie gegen irgendeinen normalen Menschen kämpfen konnte - sofern man es überhaupt konnte. Es war Wahnsinn, sie auf ihn zu hetzen, fast schon glatter Mord. Aber sie wußte auch, daß Sheldon und seine Leute auf jeden Fall hinausfahren würden, um sich für Franks Schicksal zu rächen, und trotz aller Gewissensbisse war sie auch froh über die Unterstützung. Allein hatte sie gegen Ulthars Meute nicht die leiseste Chance.
Irgendwie erschien ihr die Vorstellung absurd. Sie stand hier, inmitten einer Gruppe jugendlicher Motorradfahrer, die nicht einmal wirkliche Rocker waren, sondern höchstens eine Gang zu spielen versuchten, inmitten der modernsten Stadt der Welt, im Herzen des mächtigsten Kontinents der Erde, und bereitete sich auf einen Kampf mit Mächten vor, die ihre Wurzeln irgendwo im finsteren Mittelalter zu haben schienen - zumindest aber dort wesentlich besser hingepaßt hätten.
Das Geräusch eines sich nähernden Motorrads unterbrach ihre Gedanken. »Pecos kommt«, rief einer der an der Tür postierten Männer.
»Wurde auch Zeit«, knurrte Sheldon.
Sie setzten sich gemeinsam in Richtung Ausgang in Bewegung. Der Boden war mit Schutt und heruntergestürzten Balken und Trümmern übersät. Jeder ihrer Schritte wirbelte Staubwolken auf, und angesichts der riesigen Dimensionen der Halle fühlte sich Vivian plötzlich noch kleiner und hilfloser als zuvor. Sie war froh, das Fabrikgebäude verlassen zu können.
Pecos stieg schnaufend von seiner Maschine, als sie auf den Hof hinaustraten. In der rechten Hand schwenkte er triumphierend die Handtasche.
»Du hast dir ja mächtig Zeit gelassen«, schnappte Sheldon. »Wir dachten schon, du hättest dich irgendwo zu einem gemütlichen Mittagsschläfchen niedergelassen.«
»Ich hab das Ding doch gebracht, oder?« gab Pecos gereizt zurück. Er warf Vivian die Tasche zu und setzte seinen Helm ab. »Steig doch das nächste Mal selbst ein, wenn du wieder mal was gestohlen haben willst.«
Vivian öffnete die Tasche und kontrollierte den Inhalt, ohne weiter auf das Wortgefecht zu achten, das sich zwischen Sheldon und Pecos entspannte. Es war alles vorhanden, vor allem ihre Papiere, und wenn sie diese auch zumindest im Moment nicht brauchte, so vermittelte es ihr doch ein beruhigendes Gefühl, sich ausweisen zu können und dank Marks Bargeld sowie seiner und ihrer Kreditkarten jederzeit in der Lage zu sein, etwas zu kaufen, sich irgendwo ein neues Hotelzimmer zu nehmen oder auch zu fliehen, wenn es gar nicht mehr anders ging.
Sie schob den Gedanken beiseite, schloß die Tasche wieder und sah Sheldon an. »Wir können fahren.«
Sheldon nickte. »Okay. Pecos - du bleibst hier und paßt auf unseren Gefangenen auf. Wenn wir bis Sonnenaufgang nicht wieder hier sind, laß ihn laufen. Jack, Steven - ihr fahrt mit mir und Vivian im Wagen. Die anderen kommen mit den Maschinen nach. Aber denkt daran - nicht zu dicht.« Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß alle seine Berichte verstanden hatten, ging er von Vivian, Jack und Steven gefolgt zum Wagen hinüber. Er klemmte sich hinter das Steuer, startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen an.
Vivian beobachtete ihn unauffällig. Sie merkte, daß seine Mundwinkel zuckten, und er mit seinem Finger immer wieder kleine, unbewußte Bewegungen ausführte. Er war nervös, auch wenn er es auf keinen Fall zugegeben hätte.
Als sie den Fabrikhof verließen, drehte sich Vivian um und warf dem verlassenen Komplex einen letzten Blick zu. Die übrigen Mitglieder der Gruppe schwangen sich gerade auf ihre Maschinen, um dem Wagen zu folgen, aber Vivian sah die Männer kaum. Sie sah auch nicht die grauen, verfallenen Mauern der Fabrik. Vor ihren Augen stand immer noch das Bild Marks: An Händen und Füßen gefesselt, nackt bis auf Socken und Unterwäsche und eingesperrt in einem feuchten, kalten und finsteren Raum, aus dem er sich aus eigener Kraft nie würde befreien können. Sie wußte, daß dieser Mann nicht Mark war, aber er hatte sie mit seinen Augen gesehen, sie mit seiner Stimme angefleht ...
»Sie denken immer noch an Ihren Mann, nicht wahr?« fragte Sheldon plötzlich.
Vivian sah verwirrt auf.
Sheldon nickte. »Ich kann sie verstehen. Ich ... selbst habe die Veränderung gespürt. Dieser Mark Taylor, den wir da eingesperrt haben, ist kein Mensch mehr. Das Teuflischste an allem ist nur, daß er noch genauso aussieht. Aber diese ... diese Wesen, die Ulthar erschafft, sind irgendwie anders.«
»Sie sind nur Kopien«, entgegnete Vivian leise. »Schlechte Kopien. Spiegelbilder.«
»Vielleicht«, murmelte Sheldon, »gibt es doch so etwas wie eine Seele.« Er lächelte unsicher. »Hört sich albern an, aus meinem Mund, nicht wahr?«