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Jeremy stürmte hinter ihr her. Unter seinen Schritten schien das Haus zu beben. »Mary-Lou!« Seine Stimme war scharf, schneidend, ein Befehl, dem sie sich einfach nicht widersetzen konnte. Sie blieb stehen, schloß die Augen und ballte hilflos die Fäuste. »Mary-Lou, was, zum Teufel, ist eigentlich mit dir los?« fragte Jeremy. Er riß sie grob an den Schultern herum und funkelte sie wütend an. »Verdammt noch mal, sag endlich etwas!«

Sie versuchte schwach, sich aus seinem Griff zu befreien, aber es war aussichtslos. Jeremys Hand war wie ein Schraubstock. Sie stöhnte vor Schmerz und plötzlicher Angst, schlug in einem blinden Reflex nach seinen Händen und taumelte zurück, als er abrupt losließ. Seine Haut hatte sich kalt und hart angefühlt.

»Mary-Lou!« Jeremy trat erneut auf sie zu, berührte sie, diesmal sanft, an der Schulter und legte seine Hand unter ihr Kinn, hob es an, so daß sie gezwungen war, ihn anzusehen. »Was ist denn heute bloß mit dir los?« fragte er leise.

»Nichts. Wirklich ... ich ... ich fühle mich nicht sehr wohl, das ist alles.«

Jeremy schien sich mit dieser Erklärung zufriedenzugeben, aber Mary-Lou hatte den Eindruck, als ob es ihn in Wirklichkeit überhaupt nicht interessierte, sondern auch nur Teil der Rolle war, die er spielte. »Soll ich einen Arzt rufen?« fragte er.

Mary-Lou schüttelte schwach den Kopf. »So schlimm ist es nicht.«

»Na dann ...« Er zuckte mit den Achseln. »Ich werde dir ein wenig in der Küche helfen.« Er bewegte die Hände, fuhr sich mit einer fahrigen Geste über die beginnende Stirnglatze und suchte in seiner Jackentasche nach Zigaretten. Als er die Hand wieder herauszog, sah Mary, daß sein Finger unversehrt war. Sir Winstons Krallen hatten nicht den leisesten Kratzer darauf hinterlassen. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, wie seltsam sich seine Haut angefühlt hatte.

Kalt. Hart und unnachgiebig. Nicht wie menschliche Haut, sondern wie Metall - nein, wie Glas, verbesserte sie sich gleich darauf selbst.

»Du ... du brauchst mir nicht zu helfen«, sagte sie und versuchte zu lächeln, doch sie spürte, daß es zu einer Grimasse wurde. »Du weißt doch, viele Köche verderben den Brei.«

Sie wandte sich um, eilte fast fluchtartig in die Küche und registrierte erleichtert, daß Jeremy ihr nicht folgte. Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm mit mechanischen Bewegungen die Kuchenzutaten aus dem Schrank und begann mit der Zubereitung, damit Jeremy keinen Verdacht schöpfte. Währenddessen überlegte sie, was sie tun sollte. Solange sie nicht wußte, was überhaupt mit Jeremy los war, konnte sie sich nicht einmal an seine Dienststelle wenden. Man würde sie nicht ernst nehmen, sondern im günstigsten Fall für überspannt halten, wenn sie behauptete, Jeremy hätte sich verändert. Was hatte sie schon vorzuweisen, außer daß er sich unfreundlich verhielt, den Verschluß einer Milchflasche wegwarf und eine obszöne Bemerkung gemacht hatte? Sie würde sich lächerlich machen.

Was hatte Vivian Taylor gesagt? Es wäre gut, daß die Kinder nicht zu Hause wären. Genau das empfand auch Mary-Lou in diesem Moment.

Das Telefon schrillte. Das Geräusch kam ihr überlaut vor, riß sie aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken, so daß sie fast die Zigarette fallengelassen hätte. Sie trat vom Herd zurück und wollte gewohnheitsgemäß ins Wohnzimmer eilen, ehe ihr bewußt wurde, daß Jeremy ja zu Hause war. Sie hörte, wie er aufstand, mit schweren Schritten zum Apparat ging und den Hörer abhob. Sie konnte nicht hören, was er sagte, aber seine Stimme klang erregt.

Mary-Lou drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, schob die Küchentür einen Spalt breit auf und spähte vorsichtig ins Wohnzimmer. Jeremy stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Tisch, hielt den Hörer gegen das Ohr gepreßt und schien aus dem Fenster zu starren. Seine freie Rechte bewegte sich aufgeregt, wie um seine Worte zu untermalen. »Komme gleich selbst rüber ...« verstand Mary-Lou. »Nein, unternehmt nichts. Wir beobachten nur ... ja, genau ... Ulthar wünscht nicht, daß wir eingreifen ...«

Mary-Lou ließ die Tür zugleiten und runzelte die Stirn. Jeremy hatte erregt geklungen, aber gleichzeitig unterwürfig und beinahe ängstlich. Seine Stimme hatte einen Klang gehabt, den sie noch nie zuvor gehört hatte. Einen Moment war Mary-Lou versucht, ins Wohnzimmer zu eilen und Jeremy zur Rede zu stellen. Aber sie wußte, daß sie damit alles nur verschlimmern würde. Das erstickende Gefühl, einen Fremden im Haus zu haben, verstärkte sich noch. Sie versuchte, sich Jeremy vorzustellen, wie er jetzt wenige Meter hinter ihr stand und ins Telefon sprach. Sie konnte es nicht. Sein Gesicht schien sich ihrer Vorstellung immer wieder zu entziehen, sie sah nichts als eine leere weiße Fläche.

Schritte ließen sie auffahren, sie eilte zum Herd zurück und beugte sich in gespielter Konzentration über den Kuchenteig, als Jeremy die Tür öffnete. »Ich muß noch einmal fort«, sagte er. »Es tut mir leid, daß aus unserem gemütlichen Nachmittag nichts wird. Vielleicht ein anderes Mal.«

Sie antwortete nicht, aber Jeremy schien dies auch gar nicht von ihr erwartet zu haben. Er drehte sich um, verließ die Küche und stapfte mit schweren Schritten durch die Diele.

Mary-Lou wartete, bis sie das Geräusch der aufgleitenden Garagentür hörte. Dann streifte sie eilig ihre Schütze ab, stürzte aus der Küche und in die Garage, wo sie in ihren kleinen, roten Sportwagen stieg und Jeremy in geraumem Abstand in westlicher Richtung folgte. Sie mußte herausfinden, was mit ihm geschehen war, und vielleicht würde es ihr auf diese Art gelingen.

Er würde sich vermutlich halbtot lachen, wenn er wüßte, daß seine Frau dabei war, auf eigene Faust Privatdetektiv zu spielen, aber das war ihr gleichgültig. Sie folgte ihm ohne große Mühe quer durch die Stadt zu einer verlassenen Fabrik im Westen New Yorks. Dort stieg Jeremy aus, verschwand im Gebäude und kehrte wenige Augenblicke später in Begleitung zweier fremder Männer zurück. Einer von ihnen war wie ein Rocker gekleidet, der andere hatte sich Jeremys Trenchcoat um die Schultern gehängt. Darunter war er seltsamerweise bis auf Socken und Unterwäsche nackt. Nach einigen Sekunden erst erkannte Mary-Lou, daß es sich bei dem Mann um Mark Taylor handelte.

Ihre Verwirrung wuchs mit jeder verstreichenden Minute. Sie konnte sich keinen Reim auf das Geschehen machen.

Jeremy war schon lange nicht mehr im aktiven Dienst tätig. Als Chef des New Yorker FBI war er in erster Linie für die administrative Arbeit verantwortlich - er war sozusagen das Gehirn des Ganzen. Jeremy hatte sich schon oft darüber beklagt, daß er praktisch den ganzen Tag hinter seinem Schreibtisch sitzen und Papierberge wälzen mußte. Um so erstaunlicher war es, daß er jetzt offensichtlich auf eigene Faust handelte. Jeremy hatte ihr eine Menge Tricks verraten, mit denen man Verfolger - auch solche, die ihr Handwerk verstanden - erkennen konnte, und Mary-Lou hatte nach etwaigen Begleitern Jeremys Ausschau gehalten. Aber es gab keine. Was immer er vorhatte - offensichtlich waren nur er und die beiden Männer aus der Fabrik daran beteiligt.

Sie fuhren ein Stück die gleiche Strecke zurück, die sie gekommen waren, und fuhren dann weiter südwärts, um auf der Interstate 278 nach Westen abzubiegen, über Staten Island nach Brooklyn. Mary-Lou ließ ihren Wagen ein wenig zurückfallen. Es war ohnehin ein Wunder, daß Jeremy sie nicht längst erkannt hatte. Auch wenn sie ein paar Tricks von ihm gelernt hatte, war sie nur ein Amateur, er hingegen ein Profi. Außerdem kannte er ihren Wagen, und schon daß machte eine unauffällige Verfolgung fast unmöglich.

Nach einer Weile bog Jeremy in eine schmale, kaum befestigte Seitenstraße, die geradewegs zum Strand hinunter führte.

Mary-Lou fuhr an der Abzweigung vorbei, wendete und folgte Jeremy in noch größerem Abstand. Schließlich hielt sie an, kramte eine Zigarette aus der Tasche und schaltete den Motor aus. Sie wußte, wohin diese Strecke führte - nach Coney Island, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Jeremy dort zu suchen hatte. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, einfach zurückzufahren und das Ganze zu vergessen. Sie benahm sich wahrscheinlich unglaublich albern. Aber sie war schon zu weit gegangen, um jetzt noch aufzuhören.